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Interview mit dem Autor und Verleger Tino Hemmann

Tino Hemmann
Bildquelle: Tino Hemmann
Tino Hemmann wurde 1967 in Leipzig geboren und hat bereits im Alter von zehn Jahren angefangen Bücher zu schreiben. Nach einer Ausbildung zum Waagenbauer legte er die Hochschulreife ab und studierte Chemie und Pädagogik an einer DDR-Offiziershochschule. Nach der Wende arbeitete er als Erzieher und in der Druckindustrie. Den Engelsdorfer Verlag hat er am 1. Mai 2004 in Leipzig gegründet und ist stolz darauf, heute – gemeinsam mit seinem Team – über 2.000 Autoren aus 26 Ländern zu betreuen. Er ist seit 27 Jahren verheiratet, Vater von einer Tochter und zwei Söhnen und lebt in einem Dorf im sächsischen Muldental. Zu seiner Bibliografie zählen 28 Werke, in denen meist Kinder im Mittelpunkt stehen.

Tino, von dir habe ich nun schon einige Bücher gelesen und bin immer wieder aufs Neue von deiner Vielseitigkeit als Autor überrascht. Du schreibst Kinderbücher, von denen ich die fantastischen Abenteuer der Schulkinder in David Knackmanns unglaubliche Vorlesenacht der vierten Klassen kenne. In dem Roman Hugo, der unwerte Schatz, der mir sehr nahe ging, hast du dich mit dem unmenschlichen Euthanasieprogramm T4 der Nazis beschäftigt. Genauso betroffen hat mich das Schicksal von Elias gemacht, der in deinem Politthriller Und weil die Stunde kommt zum Kindersoldat erzogen wird. Bevor ich auf deine neueste Trilogie zu sprechen komme, verrate mir doch zunächst einmal, wie du die Flucht von Elias nach Islamabad in Pakistan und Delhi in Indien so realitätsnah beschreiben konntest.

    In meinem ersten Buch „Sonnemacher“, das ich zwischen 12 und 14 geschrieben habe, …

Entschuldige Tino, dass ich dich unterbreche, aber hast du nicht auf deiner Homepage geschrieben, dass dein erster Roman „Silberauge“ heißt?

    Ja, „Silberauge“ hieß die erste, wenig bearbeitete Ausgabe, die Urfassung gewissermaßen, die ich später stark bearbeitet habe, wobei sich der Umfang verdoppelte. Die neue Auflage nannte ich „Sonnemacher“. Bei diesem Roman musste ich ausschließlich von der Fantasie und den Vorstellungen leben. Mein Vorbild war Karl May. Bei den neueren Büchern ist es einfacher geworden. Es gibt Google-Maps, durch den Verlag kenne ich Leute aus fast allen großen Städten der Welt, manchmal auch Reisende. Die Fantasie spielt aber trotz allem eine große Rolle. Zum Glück habe ich die nie verloren.

Da kannst du wirklich von Glück reden, denn die Fantasie wird bei den meisten Kindern von ihren Erziehern, den Eltern und Lehrern, bewusst oder unbewusst mit Erfolg systematisch zerstört. Denn in Zeiten von Leistungsdruck ist für Fantasie kein Platz mehr.

    Ja, leider. Um noch einmal deine Frage aufzugreifen, wie ich die Flucht von Elias nach Islamabad und Delhi in dem Roman Und weil die Stunde kommt so realitätsnah beschreiben konnte: Mit meinem Schwiegervater und ehemaligen Geschichtslehrer konnte ich mich ausgiebig unterhalten, der mit der Welthungerhilfe jahrelang in Afghanistan eine Schule aufgebaut hat.

Gut, in Zeiten von Google-Maps hat man es dann heute schon einfacher als C.C. Bergius, der tatsächlich noch alle Handlungsorte seiner Romane in allen Teilen der Welt selbst bereist hat. Gerade was den Roman Und weil die Stunde kommt anbelangt, so sind dort einige Suren zu finden. Bist du der arabischen Sprache mächtig und hast du den Koran gelesen?

    Zumindest habe ich für das Buch einige Koranübersetzungen gelesen. Farsi oder ähnliche Sprachen kann ich leider nicht, dazu fehlt mir einfach die Zeit. Russisch habe ich einst gelernt und wende ich gern in meinen Büchern an – wenn es freilich passt.

Trotz der zahlreichen Hilfsmittel, auf die man heute zurückgreifen kann, verbleibt für den Autor immer noch jede Menge Recherchearbeit.
Um auf dein neuestes Werk, die Trilogie „Auf Wiedersehen, Bastard!“ zurückzukommen: In Die Schlacht in Magnitogorsk hast du dem Leser ein Gefühl von der Landschaft um Moskau mitgegeben und sozialkritische Hintergründe aufgezeigt. In Die Stimmen von Moskau hast du die Methoden der staatlichen russischen Erziehungsheime kritisiert und in Showdown in Kroatien hast du dich an die Grausamkeiten des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, an den Bruderkrieg in Serbien und Kroatien gewagt. Außergewöhnliches Einfühlungsvermögen hast du bewiesen, als du dich in die Rolle der Romanfigur Fedor hineinversetzt hast, um dem Leser die Funktionsweise des Klicksonars für Blinde begreiflich zu machen. Hast du dich dafür ausschließlich auf den Leiter der Universität in Kanada bezogen oder kennst du persönlich einen Betroffenen?

    Ich habe mit blinden Erwachsenen darüber gesprochen, die einhellig der Meinung sind, dass ein „Sehen“ über das Klicksonar von frühester Kindheit an gelernt werden muss. Auch in Deutschland gibt es eine Gruppe von Menschen, die diese neue Methode bei blinden Kindern fördern will. Deren Berichte und Erfahrungen halfen mir ebenfalls.

Du bist in der ehemaligen DDR zur Welt gekommen und dort aufgewachsen. In dem Roman Und weil die Stunde kommt wurde der Journalist Paul bei seiner Ausbildung im Grundwehrdienst mit einer russischen Kalaschnikow vertraut gemacht. Ist es richtig, wenn ich da autobiographische Züge vermute?

    Nun ja, die „Kaschi“, die Makarov (Pistole) und die RPG 7 (Panzerfaust) hatte wohl jeder NVA-Angehörige zu beherrschen, selbst der Koch. Die AK-47 habe ich bestimmt 10.000 Mal auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Das verlernt man nie wieder. Ich greife gern auf Dinge zurück, die ich kenne. Mittlerweile werden fast alle Zivilisten in den Krisengebieten dieser Welt mit russischen, deutschen oder israelischen Handfeuerwaffen getötet. Autobiografisch ist es eher nicht. Dem entgegen muss ich aber auch sagen, wenn ich der Journalist Paul gewesen wäre, dann hätte ich mich wahrscheinlich ebenso verhalten, wie der Paul im Buch.

Diese Figur des Paul war mir sehr sympathisch, denn er fand in scheinbar ausweglosen Situationen immer eine passende Ausrede und kam nur deshalb an Elias heran, weil er ihm Zeit gab und ihn nicht bedrängte.
Ich möchte aber noch einmal den Faden zu den Waffen aufnehmen: Du scheinst allgemein umfangreiche Sachkenntnisse von Waffen zu besitzen. Woher stammen diese Kenntnisse?

    Nun, das ist natürlich ein Ergebnis der Offiziersausbildung. Auch wenn wir eine Friedensarmee waren, so wurden uns gerade die „feindlichen“ Waffenfunktionen beigebracht. Aber ob Waffen, ethnische Eigenschaften, örtliche Begebenheiten – ich recherchiere stets ganz genau im Vorfeld eines Buches, was ich da beschreiben will. Oberflächlichkeiten mag ich nicht. Mitunter recherchiere ich so genau, dass auch mal eine Klagedrohung ins Haus flattert, weil sich Leute wiedererkennen. Bisher ging das stets glimpflich aus.
    Wenn aber jemand Showdown in Kroatien gelesen hat und irgendwann in der Nähe von Zadar Urlaub macht, dann soll er möglichst erkennen, an welcher Stelle welches Kapitel handelt. Ich war übrigens noch nie in Kroatien, Moskau oder Magnitogorsk.

Ich denke, deine Leser wissen deine gute Recherchearbeit zu schätzen!
Du bist ein erfolgreicher Verleger, schreibst Bücher unterschiedlichster Richtungen, für die du umfangreiche und grundverschiedene Informationen sammeln musst. Recherchearbeiten sind mitunter sehr zeitaufwändig. Wie findest du da noch die Zeit für Lesungen oder Präsentationen deines Verlages, die du so ganz nebenbei auch noch abhältst?

    Zeitmanagement ist für meine „Jobs“ ausgesprochen wichtig. Die Familie darf ich auch nicht vergessen. Geschrieben wird meistens nachts, Ideen notiere ich mir stets und ständig.

Ich verkneife mir an dieser Stelle die Frage, wann du schläfst, wenn du nachts schreibst. Kommst du bei diesem Programm selbst dazu, auch mal ein Buch zu lesen und wenn ja, welcher Autor bzw. welche Autorin oder welches Genre wird von dir bevorzugt?

    Ich lese sehr selten, weil ich immer lese. Das klingt widersprüchlich, völlig klar, doch genau so ist es. Tagtäglich lese ich die eingehenden Manuskripte quer oder vollständig, sodass ich nur selten lese, was ich gern lesen würde. Zwei Bücher aus meinem Verlag habe ich in letzter Zeit intensiv gelesen, die ich mit gutem Gewissen weiterempfehlen kann. Da ist der Roman „Die Tage von Gezi“ vom ZDF-Auslandskorrespondenten Martin Niessen, der neben einer netten Story interessante Hintergrundinfos zu den Ereignissen in Istanbul liefert. Zum zweiten der freizügige Roman „Lust & Liebe dann kam das Leben“ mit urkomischen Einblicken in die Leipziger Szene rund um die „Karli“.

Daran, dass du auch noch Manuskripte „überfliegst“, weil du nicht nur Autor, sondern auch noch Verleger bist, hatte ich gerade gar nicht gedacht.
Hast du schon neue Pläne bezüglich eines weiteren Buches, die du unseren Lesern verraten willst?

    Im Moment klappt mein Zeitmanagement nicht so recht. Das soll heißen, ich widme mich fast ausschließlich dem Verlag. Trotzdem will ich in den kommenden zwei Jahren eine Erzählung beenden, die sich (milde ausgedrückt) mit sozialen Missständen der deutschen Gegenwart beschäftigt. Es geht um vier völlig verschiedene, gesellschaftlich abgedriftete Jugendliche, deren Lehrerin die Zöglinge in die Zukunft manövrieren will. Das Drama wird also viel mit der Zeit zu tun haben.

Lieber Tino, ich danke dir für das Interview und die Zeit, die du dafür geopfert hast und darf dir für deine Zukunft alles Gute wünschen!

Und weil die Stunde kommt von Tino Hemmann

Und weil die Stunde kommt
Engelsdorfer Verlag 2007
Broschur
336 Seiten
ISBN 978-3-86703-177-6

Bildquelle: Engelsdorfer Verlag
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