Irene Matts Erzählkunst zwischen Missbrauch, Mystik und Vatikan
Kindheit ohne Trost – Giulianos schwieriger Start
Als Giuliano Ferrari an seinem zwölften Geburtstag nach Hause kommt, sucht er vergeblich nach seiner Geburtstagstorte. Stattdessen eröffnet ihm sein Vater, dass die Mutter ihn verlassen hat. Giuliano fragt sich, ob er Schuld daran trägt.
Vier Jahre später heiratet der Vater Signora Stefania, die entscheidet, dass Giuliano kein Theologiestudium beginnen, sondern stattdessen eine Kochausbildung bei ihrem Vetter absolvieren soll. Giuliano wird ohne Herzlichkeit verabschiedet und von Pietro ins Hotel gefahren. Noch am ersten Abend wird er von diesem vergewaltigt. In seiner Kammer, in der er sich nie sicher fühlt, blickt der Sechzehnjährige auf die Mauern eines nahen Klosters – seine stille Zuflucht.
Vom Kloster in die Krise – Laurentius ringt um Glauben
Unter dem neuen Namen Laurentius wird Giuliano schließlich als Novize im Franziskanerorden in Assisi aufgenommen. Bei einem Aufenthalt in der Krypta glaubt er, der Auferstehung des heiligen Franziskus beizuwohnen – ein Wunder, das ihm niemand glaubt. Die Brüder halten seine Visionen für Stresssymptome vor der bevorstehenden Profess.
Laurentius tritt aus Überzeugung in den Hungerstreik und wird nach einem Eklat mit Bruder Angelo, der ihn regelmäßig schikaniert, in die Psychiatrie eingewiesen. Während der Therapie mit Dr. Callieri diskutiert Laurentius kritisch über den Glauben und stellt infrage, ob nicht alle Gläubigen psychisch behandelt werden müssten. Erst als er das Wunder leugnet, wird er entlassen – nur um wenig später unter unglücklichen Umständen erneut in einer Arrestzelle zu landen.
Vom Vatikan zur Pandemie – Zwischen Dienst und Schicksal
Nachdem Laurentius wieder freikommt, wird er zur Kongregation für Selig- und Heiligsprechung nach Rom berufen – endlich scheint Glück greifbar. Er prüft Wunderfälle, etwa:
- ein Lokalpolitiker, der seinen Finger aufisst,
- ein Mann, der in Kyoto beinahe ertrinkt,
- Übelkeit bei EU-Abgeordneten in Brüssel,
- die wundersame Rettung eines Flüchtlings aus Niger,
- ein überlebender Feuerwehrmann nach einem Waldbrand,
- sowie ein skrupelloser Geflügelzüchter, der ungestraft bleibt.
Dann trifft die Corona-Pandemie ein – mit tragischen Folgen: Bruder Raphael, Klostervater in Assisi, stirbt und verfügt, dass Giuliano seine Nachfolge antreten soll.
Authentizität, Ironie und kluge Gesellschaftskritik
Irene Matt beginnt ihren Roman Laurentius’ Wunder* im Jahr 2012 und verwebt die aktuelle Handlung mit Rückblicken auf Giulianos Kindheit und die Missbrauchserfahrungen mit Pietro. Die Autorin streut die Wunderfälle in eigenen Kapiteln ein und gibt der Handlung so episodischen Charakter.
Ihre Recherchen überzeugen: etwa zu kulturellen Gepflogenheiten in Japan, der Vielzahl römischer Kirchen und den physikalischen Auswirkungen von Alkohol im Flugzeug. Dabei bleibt stets offen, ob der Vatikan tatsächlich so ermittelt – aber Matt nutzt diese Kulisse klug als literarisches Spielfeld.
Themenvielfalt und ein fesselndes Finale
Der Roman thematisiert optische Täuschung, Wahrnehmung, spontane Selbstheilung und die Gefahren sozialer Netzwerke. Frühkindliche Erlebnisse und deren lebenslange Auswirkungen werden eindringlich dargestellt.
Matt schreibt flüssig, pointiert und verzichtet auf unnötige Abschweifungen. Ihr erzählerischer Stil spricht auch atheistische Leser an – neugierig und offen auf ein Finale, das alles andere als vorhersehbar ist.