
Kindheit im Heim
Die dreizehnjährige Sanna, die nichts über den Verbleib ihrer Mutter weiß, lebt seit sieben Jahren in einem Kinderheim, in dem die Erzieherin es gut mit den Kindern meint. Wie alle Heimkinder ist auch sie auf Kleiderspenden angewiesen und darf gelegentlich ein Wochenende bei einer Schulfreundin verbringen, die in einem großen Haus in der Nähe des Heims wohnt. An ihrem vierzehnten Geburtstag singt man ihr ein Ständchen, und nur der Romajunge Andrejs wagt es, ihr einen „ordentlichen Schmatzer“ auf die Wange zu geben – was sie sehr verlegen macht. Wenn sich jemand über sie als Heimkind lustig macht, reagiert Sanna impulsiv und schlägt unbarmherzig zu.
Der Weg nach Riga
Nach einem solchen Vorfall fährt Sanna nach Riga und kommt in einem Wohnheim unter. Für einen Monat hat man ihr Geld zum Leben mitgegeben. Obwohl sie ein Stipendium erhält und neben der Schule arbeitet, reicht das Geld nicht. Sie schwänzt den Unterricht und gibt das meiste Geld für Alkohol aus, sodass sie ihre einzige Hose mit einer Sicherheitsnadel verschließen und ein Bettlaken zum Auffangen des Menstruationsblutes verwenden muss.
Begegnung mit Andrejs
Nach einem erneuten, alkoholbedingten Filmriss wacht Sanna in einem fremden Zimmer auf und findet einen Zettel von Andrejs. Sie begegnet seiner freundlichen Tante Rita und erfährt, dass Andrejs, der inzwischen in einer Autowerkstatt arbeitet und einen Schnurrbart trägt, sie im Park aufgelesen hat. Wahrscheinlich war sie schon lange in ihn verliebt, so ihre Mutmaßung, denn auch er kennt seine Eltern nicht. Das gemeinsame Schicksal verbindet sie: Sanna zieht zu Andrejs und Rita, bricht die Schule ab und wird schwanger.
Lia – ein Kind zwischen Welten
Mit dunkler Haut kommt Lia, ihr kleines Romamädchen, zur Welt. Andrejs arbeitet viel, damit sich die junge Familie etwas leisten kann. Als Lia in die Schule kommt, wird sie von den anderen Kindern als „dreckige und stinkende Zigeunerin“ verspottet – eine Erfahrung, die sie tief verletzt. Sanna wiederum äußert den Wunsch, eine Ausbildung als Krankenschwester zu beginnen.
Geheimnisse und Verluste
Nach etwa zwei Dritteln des Romans kommt Lia nach einem Flug aus Schottland nach Riga zu ihrem Vater und dessen Tante Rita; dort überrascht man sie mit einer vollständig eingerichteten Wohnung. Lia will von Rita wissen, warum ihr Vater seit dem Tod der Mutter vor elf Jahren nicht mehr weitergelebt und keine neue Beziehung eingegangen ist. Unter welchen Umständen Sanna ums Leben kam, bleibt für die Lesenden unklar. Lia hingegen äußert den Wunsch, den Mann zu finden, der Sannas Herz transplantiert bekam.
Diskriminierung und Selbstzweifel
Lia hat ihr Leben lang unter Diskriminierung gelitten. Sie wird „Zigeunerin“ oder „Krähe“ genannt, obwohl ihr Nachname Rabe ist. Vielleicht liegt es an ihrem Aussehen: „schwarze Augen und Haare, dunkle Haut, Augenbrauen wie blauschwarze Vogelflügel“. Sie fragt sich: „Ob ich die Krähe erst loswerde, wenn ich dem Raben erlaube, in mir zu wohnen?“ Ihre aus Kindheitstagen gewachsene Wut hat sie nur schwer unter Kontrolle. Tante Rita, die stets bunt gekleidet und mit Schmuck behangen ist, trägt kein Romablut in sich – sie ist keine Verwandte, sondern eine Nordländerin, die dennoch eine wichtige Rolle in Lias Leben spielt.
Ein neues Familienband
Als erwachsene Frau erfährt Lia von ihrem Vater, dass Dans Rabe ihr mitgeteilt habe, Phūri Daj Zele halte sich für ihre Großmutter. Ein erstes Treffen mit Andrejs’ Familie, die nun auch Lias Familie ist, findet in einem Café in Riga statt. Im weiteren Verlauf erzählt Dan, wie er Andrejs über das Internet aufgespürt hat.
Fazit – ein Roman voller Intensität
Mit einem neugierig machenden Erzählstil und einem Plot, der Ausgrenzung auf eindringliche Weise sichtbar macht, verzaubert Laura Vinogradova ihre Leser:innen. Der aus dem Lettischen von Britta Ringer übersetzte Roman Sanna und Lia* zieht die Lesenden tief in die Geschichte hinein und lässt sie nicht mehr los.
Sanna und Lia von Laura Vinogradova

Übersetzung von Britta Ringer
Mediathoughts Verlag 2025
Hardcover
224 Seiten
ISBN 978-3-947724-59-8
