Interview mit der Übersetzerin Simone Schroth

Simone Schroth
Bildquelle: Simone Schroth
Simone Schroth ist 1974 in Frankfurt am Main geboren und hat nach ihrem Abitur ein Studium in Vergleichender Literaturwissenschaft, Neuerer Germanistik und Neuerer Anglistik sowie „Literarischem Übersetzen aus dem Niederländischen“ in Mainz, Bonn und Münster absolviert. In ihrer Dissertation hat sie die Übersetzungen von Anne Franks „Het Achterhuis“ ins Deutsche, Englische und Französische einem kritischen Vergleich unterzogen. Seit 2004 nimmt sie regelmäßig an den Übersetzertagen, den Literaire Vertaaldagen in Utrecht/Amsterdam teil sowie an weiteren Workshops, zum Beispiel vom Expertisecentrum Literair Vertalen in Antwerpen und Utrecht. Heute arbeitet sie freiberuflich als Lehrkraft für Germanistik und Übersetzungswissenschaft, übersetzt aus dem Niederländischen und Englischen ins Deutsche sowie aus dem Deutschen ins Englische und lebt mit ihrem Mann und einem Rudel Hunde und Katzen aus dem Tierschutz in ihrer Wahlheimat England.

Hallo Simone, mit einem Interview einer Übersetzerin betrete ich Neuland, denn mich hat die Vorgehensweise interessiert und unsere Leser finden deine Arbeit sicherlich auch spannend. Auf dich aufmerksam wurde ich durch den von mir besprochenen Kriminalroman Staub zu Staub, den du aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt hast. Wenn man sich die Liste der Bücher anschaut, die du bereits übersetzt hast, fällt auf, dass es dabei häufig um den Krieg geht. Zwar findet sich darunter auch der im Jahr 2019 erschienene, als Urlaubslektüre ausgewiesene Roman „Das kleine Sommerhaus am Meer“ und der Psychothriller „Unsere dunkle Seite“ sowie die Liebesgeschichte „Bis morgen am Meer“, die beide erst im Jahr 2021 erscheinen werden, doch auch die Tagebuchaufzeichnungen „Nachts träum ich vom Frieden“ (2018) und die Autobiografie einer Widerstandskämpferin und Holocaust-Überlebenden „Mein Name ist Selma“, die ebenfalls erst im nächsten Jahr erscheinen wird. Entspricht es deinem Wunsch, Übersetzungen in erster Linie zu diesem Thema zu machen, oder haben dich die Verlage quasi in eine bestimmte Schublade gesteckt, weil du als Expertin dieser Epoche giltst?

    Beides, würde ich sagen. Verlage sehen natürlich, was man schon gemacht hat, und wenn man jahrelang mit bestimmten Lektor*innen zusammenarbeitet, haben die einen (hoffentlich!) auch bei bestimmten Projekten im Kopf. Der Themenbereich Zweiter Weltkrieg und Shoah interessiert mich schon lange sehr. Krimis und Thriller lese ich sowieso leidenschaftlich gern, und auch die „Unterhaltungsliteratur“ ist reizvoll, wenn es ums Übersetzen geht.

Das ist natürlich immer von Vorteil, wenn man ein breites Spektrum abdecken kann und – wie du – vielseitig interessiert ist. In deiner Doktorarbeit hast du dich kritisch mit den Übersetzungen der Werke von Anne Frank auseinandergesetzt. Wie bist du gerade auf das jüdische Mädchen gekommen, die in den letzten Kriegswochen 1945 in Bergen-Belsen umgekommen ist? Was hat dich dazu bewegt oder was hat den Ausschlag gegeben, dich mit ihrem traurigen Schicksal zu befassen?

    Anne Franks Schicksal ist ja wahrscheinlich eines der bekanntesten der Shoah, und ihre Tagebuchaufzeichnungen kennt wohl fast jeder, zumindest zum Teil. Mein Anne Frank-Schlüsselerlebnis fand 1988 statt: Die Kritische Ausgabe (die „wetenschappelijke editie“) erschien auf Deutsch, und ich habe sie mir zu Weihnachten gewünscht. In dieser Ausgabe sind Anne Franks ursprüngliche Aufzeichnungen, ihre eigene Überarbeitung und die nach dem Krieg publizierte Fassung abgedruckt; man kann sie parallel oder jede für sich lesen. Das hat mich unglaublich fasziniert – und ich war beeindruckt von Anne Franks Arbeit mit ihren eigenen Texten. Der Einleitungsteil enthält auch ein Kapitel zu den verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen. Später erschien eine neue ‚Leseausgabe‘. Als ich dann auf der Suche nach einem Thema für meine Magister- und meine Doktorarbeit war, lagen „Anne Frank- Übersetzungen“ einfach nahe, und ich hatte das große Glück, dass das Thema noch ‚frei‘ war.

Das stimmt, ihre Tagebuchaufzeichnungen und damit ihr Schicksal kennt so ziemlich jeder, meistens bereits aus der Schule. Welches Thema hättest du denn für deine Doktorarbeit gewählt, wenn es nicht mehr „frei“ gewesen wäre?

    Gute Frage! Vermutlich hätte ich versucht, andere Texte für einen Übersetzungsvergleich zu finden. Oder autobiografische Werke zu einem bestimmten Themenbereich. Aber an Anne Frank war ich ja seit der Planung der Magisterarbeit ‚dran‘ und hätte das Thema nie freiwillig hergegeben.

Zur Not hätten die Statuten umgeschrieben werden müssen! 🙂 Wie gut muss man eigentlich eine Sprache beherrschen, um Übersetzungen anbieten zu können? Was ich damit meine: Langt meine subjektive Einschätzung oder gibt es objektive Kriterien wie Qualifikationen nach Art eines Diploms?

    Wenn man sich die Lebensläufe von Übersetzer*innen anschaut, begegnen einem viele verschiedene Wege, wie sie zum Übersetzen gekommen sind – über ein Studium, als ‚Quereinsteiger‘ usw. Man muss da aber zwischen literarischem Übersetzen und Fachübersetzen unterscheiden. Inzwischen gibt es für beides auch immer mehr Studiengänge und Ausbildungsmöglichkeiten. Persönlich habe ich dem Zusatzstudiengang „Literarisches Übersetzen aus dem Niederländischen“ an der Uni Münster sehr viel zu verdanken. Als Übersetzer*in sollte man immer bereit sein, mehr über Sprache und Kultur zu lernen, und zwar über die Fremdsprache(n) und über die eigene Muttersprache. Alle Sprachen entwickeln sich ja ständig weiter. Ich frage auch bei jeder Übersetzung Kolleg*innen und Muttersprachler*innen um Rat, und ich suche mir Testleser*innen für bestimmte Passagen.

Das ist ja echt interessant, denn über die unterschiedlichen Anforderungen zwischen einer literarischen Übersetzung und einer, in der es um fachliches Wissen geht, habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Und natürlich hast du auch Recht, wenn du auf die fortwährende Entwicklung von Sprache hinweist. Wie ich feststelle, sind Übersetzungen, zumindest wenn es um ein fachliches Thema geht, viel arbeitsintensiver als ich dachte. Zudem ging ich wohl davon aus, dass es sich meistens um zweisprachig aufgewachsene Menschen handelt, die sich so eine Aufgabe zutrauen. Du übersetzt zwar aus dem Niederländischen ins Deutsche, aber nicht umgekehrt. Warum?

    Aus Respekt vor der Aufgabe. Ich habe nur eine Muttersprache, das Deutsche. Üblicherweise übersetzt man aus der Fremd- in die Muttersprache, weil man in diese Richtung das sicherere Sprachgefühl besitzt. Im englischsprachigen Raum lebe ich inzwischen seit über zehn Jahren; ich unterrichte in beiden Sprachen und betreue Studierende bei Übersetzungsprojekten und Arbeiten zu verschiedenen Themen. Deswegen traue ich mir auch zu, bestimmte Texte ins Englische zu übertragen. Den Auftraggebern sage ich aber immer ganz deutlich, dass ich keine Muttersprachlerin des Englischen bin, und die Übersetzungen bespreche ich ausführlich mit Muttersprachlern. Alles andere würde ich für mich persönlich als nicht akzeptabel empfinden.

Du stellst hohe Ansprüche an dich, was dich ehrt und was sich in Fachkreisen sicherlich auch zu deinem Vorteil herumgesprochen haben dürfte. Kommt es vor, dass du für ein Wort keine Übersetzung findest, weil es diesen Begriff in der anderen Sprache entweder gar nicht gibt oder er Raum für Interpretationen lässt?

    Das kommt vor; es gibt einfach nicht immer eine ‚Einwortlösung‘. Dann überlegt man sich, welchen Effekt das Wort im Originaltext hat, und wie man diesen Effekt in der Zielsprache am besten erreicht.

Verstehe ich dich richtig? Du „hörst“ in dich hinein, wenn du überlegst, was ein Wort in der zu übersetzenden Sprache ausdrückt oder vielleicht auch, welche Gefühle damit einhergehen. Dem Wort „geil“ würde man in einem Text, der vor – sagen wir mal – zwanzig Jahre geschrieben wurde, eine andere Bedeutung zukommen lassen als einem aus der heutigen Zeit. Die Jugend verbindet mit dem Wort heutzutage etwas anderes als beispielsweise noch ihre Großeltern. Das meinst du mit Effekt, oder?

    Ja, genau das! Vor allem bei Dialogen ist es sehr wichtig, dass sie natürlich klingen und man beim Lesen nicht „Das würde doch aber niemand so sagen“ denkt. Ich lese auch viele Stellen laut oder lasse mir meine eigenen Übersetzungen vorlesen. Wenn die Vorlage ‚flüssig läuft‘, möchte ich das auch in der Übersetzung so haben. Wenn es im Original stilistische Besonderheiten gibt, sollen diese Stellen, wenn möglich, auch im Zieltext auffallen. Witze und Wortspiele sind auch ein gutes Beispiel, weil man sie oft nicht einfach übersetzen kann, sondern eine ebenso geistreiche oder lustige Alternative finden muss.

Was wohl auch bei Sprichwörtern der Fall ist. Wie schätzt du denn die Gefahr der bewussten Manipulation eines Übersetzers ein, beispielsweise bei der Übersetzung religiöser Texte?

    Diese Gefahr gibt es natürlich, und dieses Phänomen ist schon sehr lange Gegenstand der Übersetzungsforschung. Interessant ist immer, welche Absicht dahintersteht. Bewusste Manipulation ist ja etwas anderes als (unvermeidliche) Interpretation.

Es muss sich ja nicht einmal zwingend um eine bewusste Manipulation handeln. Ich denke da eher auch an die Gesinnung des Übersetzers, der die Übersetzung ja wohl immer auch subjektiv gefärbt angeht. Oder siehst du das anders?

    Da hast du sicher recht. Ganz neutral kann man nicht übersetzen; Lesen bedeutet immer Interpretieren, und Übersetzen auch. Ich versuche grundsätzlich, alle im Original angelegten Bedeutungen zu erfassen und sie auch im Zieltext anzulegen, aber das ist natürlich nicht immer zu schaffen. Wenn der/die Autor*in noch lebt und ich Kontakt aufnehmen darf, frage ich auch durchaus mal nach. So ein Austausch ist immer sehr interessant!

Ist es hilfreich, immer zuerst den kompletten Text zu lesen, um besser zu verstehen, worauf es dem Autor ankommt? Oder legst du sofort mit der Übersetzung los, ohne das Ende zu kennen?

    Ich lese immer zuerst den ganzen Text mindestens einmal, um ein gutes Gespür dafür zu bekommen – für den Aufbau, den Spannungsbogen, den Stil. Außerdem kann man so viel besser einschätzen, wo es Schwierigkeiten geben könnte und wie aufwendig die Hintergrundrecherche wird.

So würde ich es wohl auch machen, das macht Sinn, und ich kann mir vorstellen, dass dadurch auch spätere Verbesserungen vermieden werden. Gibt es Texte, die du nicht übersetzen würdest? Ich denke dabei an Bücher, die sich beispielsweise nicht mit deiner politischen Gesinnung vereinbaren lassen.

    Wenn ein Text in einer Ausgabe ohne einordnendes Vor- oder Nachwort erscheinen würde, würde ich sicher nichts übersetzen, was meiner Überzeugung entgegensteht. Auch keine Texte, in denen Gewalt oder Missbrauch verherrlicht werden oder gar dazu aufgerufen wird.

Wenden wir uns einem privaten Thema zu: Welche Bücher liest du neben den Werken, die du in eine andere Sprache übersetzt und verrätst du unseren Lesern, wo da deine Schwerpunkte liegen?

    Meinem Gefühl nach komme ich privat viel zu wenig zum Lesen. Deshalb bin ich sehr froh, dass mich die Texte, denen ich an der Uni und im Zusammenhang mit meinen Übersetzungsaufträgen begegne, sowieso interessieren. Krimis und Thriller habe ich ja schon genannt, und Romane lese ich grundsätzlich sehr gern. Außerdem Autobiografien sowie Tagebuchaufzeichnungen und Sachbücher zu bestimmten Themen. Und dann noch viel von dem, was Zeitungen und Zeitschriften online zugänglich machen. Das Tolle ist, dass einem alles, was man liest, wieder fürs Übersetzen nutzt.

Auch wenn du gefühlt zu wenig zum Lesen kommst, überschneiden sich bei dir immerhin, wie in meinem Fall übrigens auch, die beruflichen mit den privaten Interessen, was ich eigentlich allen Menschen wünschen würde.

Herzlichen Dank für deine Bereitschaft und die Zeit, die du dir für dieses Interview genommen hast!

Staub zu Staub von Felix Weber

Staub zu Staub
Übersetzung von Simone Schroth
Penguin Verlag 2020
Klappenbroschur
416 Seiten
ISBN 978-3-328-10499-5

Bildquelle: Penguin Verlag
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