Interview mit dem Autor Valentin Moritz über sein Buch „Kein Held“

Valentin Moritz
Foto © Sarah Wohler
Valentin Moritz, geboren 1987, wuchs in Niederdossenbach, einem Dorf in Südbaden, auf. Nach einem Studium der Literaturwissenschaften an der FU Berlin hat er Prosa in Zeitschriften, Anthologien und kleinen Einzelpublikationen veröffentlicht. Im Jahr 2015 belegte er den 1. Platz beim Literaturpreis Prenzlauer Berg. Es folgten Einladungen zur Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin und zum Klagenfurter Literaturkurs. In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Bogotá erhielt Valentin Moritz im Jahr 2019 das Kulturaustauschstipendium GLOBAL des Berliner Senats und ein Jahr später ein Arbeitsstipendium der Kunststiftung Sachsen-Anhalt, das vom Kloster Bergesche Stiftung bezuschusst wurde. Die Erinnerungen seines Großvaters Kein Held ist seine erste Buchveröffentlichung. Er lebt im Berliner Verwaltungsbezirk Neukölln.

Ich grüße dich Valentin!
Kein Held, die Lebensgeschichte deines Großvaters Josef Mutter, ist dein erstes Buch. Du bist damit einer Bitte deines Großvaters gefolgt. Bedauerlicherweise ist er vor Erscheinen des Buches verstorben und wahrscheinlich hast du ihm das Versprechen gegeben, ohne zu wissen, ob du für dein Erstlingswerk einen Verlag findest, was bekanntlich heutzutage nicht so einfach ist, oder?

    Im Grunde hatten wir beide zur selben Zeit dieselbe Idee. Dass wir uns aber tatsächlich gemeinsam über mehrere Jahre hingesetzt haben, war nur möglich, weil mein Großvater selbst Initiative gezeigt hatte – weil er selbst erzählen wollte. So etwas wie eine Buchveröffentlichung in einem Verlag schwebte ihm dabei zwar diffus vor, er stellte aber keinerlei Erwartungen an mich. Zunächst ging es ja erst einmal nur darum, seine Erinnerungen in irgendeiner Form festzuhalten – was ich daraus machen würde (oder könnte), blieb mir überlassen. Irgendwie vertraute er wohl darauf, dass ich schon was daraus machen würde. Wie wir dann gerade beim Badischen Landwirtschafts-Verlag gelandet sind, ist eine längere Story [wie man hier nachlesen kann] und belustigt mich immer wieder, freut mich aber zu gleichen Teilen, denn so speziell der Verlag, so speziell das Buch …

Wer weiß, vielleicht hat er sich eine Veröffentlichung als Buch im Stillen gewünscht, hat es nur nicht ausgesprochen, weil er dazu viel zu bescheiden war. Kommen wir auf Berlin zu sprechen, die Stadt, die du zu deiner Wahlheimat erkoren hast. Dein Heimatort Niederdossenbach besteht heute sicher schon aus mehr als nur sechzehn Häusern wie zu den Kindheitstagen deines Großvaters. Sind Verwandte von dir im Hotzenwald geblieben und wäre es für dich heute völlig undenkbar, dort zu wohnen? Was würdest du in der dörflichen Umgebung am meisten vermissen?

    Natürlich gibt es Ausnahmen, aber der Großteil meiner Verwandtschaft lebt in Baden-Württemberg oder in der Nordschweiz – in einem Umkreis von ein, zwei Fahrtstunden zu Niederdossenbach, wo die Sippe quasi ihren Ursprung hat. Ich selbst kann mir eigentlich nicht vorstellen, wieder auf dem Dorf zu leben. Das höchste der Gefühle wäre in direkter Umgebung einer Stadt, im Südwesten kämen eigentlich nur Freiburg infrage, aber dort ist es so grün und dörflich, dass man auch gleich weiter reinziehen könnte. Ich glaube, was ich am meisten in der dörflichen Umgebung vermissen würde, ist die Vielfalt – die Vielfalt von Lebensentwürfen und Ansichten, von Gesichtern und Geschichten – und natürlich auch das kulturelle Angebot beziehungsweise die beruflichen Anknüpfungsmöglichkeiten als Autor*in. Außerdem kann ich den sozialen Druck im Dorf nicht ausstehen. Auch innerhalb der Blase, in der man sich als Städter bewegt, herrscht großer Druck, aber immerhin kann man diese leichter verlassen, weil überhaupt andere existieren. Andererseits bin ich sehr ambivalent, auch in der Stadt fehlt mir vieles. Ein kleines Gartengrundstück auf dem Land, zusätzlich zur Stadtwohnung, ist deshalb eine feine Sache.

Ohne dass ich Berlin kenne, denn ich muss gestehen, noch nie in unserer Hauptstadt gewesen zu sein, kann ich mir schon vorstellen, dass diese Weltstadt noch einiges mehr zu bieten hat als die Städte im Ruhrgebiet, wo ich lebe. Da bist du sicher verwöhnt, wenn ich das mal so vorsichtig ausdrücken darf, und ein Dorf kann da wohl in keinster Weise mithalten. Eine Gartenoase mit einem netten Häuschen, mitten in Berlin, das wäre vermutlich das perfekte Domizil für dich! 😉
Kommen wir zurück zu den Erzählungen deines Großvaters: Die hast du auf einem Tonträger aufgenommen und dich intensiv damit auseinandergesetzt. Ich kann mir vorstellen, dass es für dich eine Zeitreise in die Vergangenheit war und du dich in die damalige Zeit versetzt gefühlt hast. Wenn man die schrecklichen und verlustreichen Kriegsjahre einmal ausklammert, kam da auch mal so etwas wie Wehmut in Bezug auf ein idyllisches Landleben, fernab aller Hektik auf? Oder besteht diese Art von Sozialromantik nur noch in unseren Köpfen, indem wir quasi die schwere Arbeit der früheren Bauern verherrlichen?

    Sowohl als auch. Denn selbst in der schwersten Arbeit kann etwas zutiefst Befreiendes liegen, sofern man sich mit dieser Arbeit identifiziert. Wenn man aber eigentlich etwas ganz anderes tun möchte, jedoch keine Alternativen hat, oder selbst das kleinste Maß an Sicherheit und Gesundheit nicht erfüllt ist, wird es alles andere als romantisch… Damals wie heute. Für meinen Großvater bestand das Leben aus Herausforderungen – und sein Glück war, dass diese ihn nie bis zur Bitterkeit überforderten. Er hat fast alles irgendwie gemeistert, was er sich vorgenommen hat, hat in allem, was ihm widerfuhr, eine Chance gesehen. Andererseits äußerte mein Großvater durchaus wehmütig, dass er „die Einfachheit“, die in seiner Kindheit herrschte, manchmal vermisste. Ich kann das gut nachvollziehen. Wir können aber nicht wissen, ob nicht auch mein Großvater im Laufe seines Lebens begonnen hat, diese Zeit etwas rosiger zu malen, als sie gewesen sein mag. Das ist die Crux mit der Erinnerung.

Ja, da ist etwas Wahres dran. Mir geht es manchmal auch, wenn ich auf einen Urlaub zurückblicke. Im Moment sehe ich nur die positiven Seiten, die schlechten blendet man irgendwie aus. Und erst, wenn man länger darüber nachdenkt, fallen wieder die Dinge ein, die nicht so gut gelaufen sind.
Auf Facebook hast du auch einen Soundcheck der Erzählung deines Großvaters hochgeladen und stellst an die Leser die Frage, wer die berichtenden Waldschrate, die natürlich in einem badischen Dialekt sprechen, verstehen kann. Ich muss gestehen, dass ich von jeher Probleme mit Dialekten habe. Wie zu erwarten, verstehe ich davon kein Wort. Obwohl du längst den südbadischen Ort mit Berlin getauscht hast, wo ja bekanntlich eine andere Mundart gesprochen wird, bereitet dir die Verständigung keine Schwierigkeiten? Oder musstest du auch schon mal einen „Übersetzer“ um Hilfe bitten?

    Die Verständigung mit Urberliner*innen bereitet mir keine Schwierigkeiten. Mein Interesse an Dialekten war schon immer sehr ausgeprägt und es macht mir Freude, mich den jeweiligen sprachlichen Gepflogenheiten eines Ortes spielerisch anzupassen – oder umgekehrt eine Sprechweise zu forcieren, die dort nicht üblich ist, um zu schauen, wie die Locals darauf reagieren. Konkret lasse ich in Berlin also gerne mal den Alemannen raushängen, und umgekehrt wird dann in Freiburg auch mal massiver berlinert, als ich es in Berlin selbst je tun würde. Sprache kann ein Mittel der Abgrenzung sein – oder der Verbindung. Beides hat seinen Reiz.

Du musst schon entschuldigen, dass ich gerade nur mit Mühe einen Lachkrampf verhindern konnte, als du sagtest, dass es dir auch noch Freude bereitet, dich den sprachlichen Gepflogenheiten anzupassen. Ich verstehe da nur Bahnhof und allenfalls einzelne Wörter, deren Zusammenhänge ich nicht ergründen kann.
Ich möchte noch einmal auf deinen Großvater zurückkommen, der ein bemerkenswert kritischer Mensch war, was er vermutlich seinen Eltern zu verdanken hat. Wäre er in deiner Generation aufgewachsen, was glaubst du, würde heute aus ihm geworden sein? Für die damalige Zeit war er ja auch noch überdurchschnittlich gebildet, hat sich Fremdsprachen beigebracht und die Mittlere Reife nachgeholt. Könntest du ihn dir als Politiker vorstellen, als Großunternehmer? Oder etwa als moderner Hausmann, der von seinem Recht auf Elternzeit Gebrauch macht?

    Oh je, darauf zu antworten fällt mir wirklich schwer, weil hochspekulativ! 🙂 Der Charakter meines Großvaters, seine Bildung, seine Haltung – all das war Ergebnis seiner Zeit und der Schicksalswindungen, die ihn geprägt haben. Ohne diese zeitspezifischen Faktoren wäre er ein ganz anderer geworden. Dasselbe gilt für seine Eltern. Und um mir vorzustellen, wie er in meiner Generation aufgewachsen wäre, müsste ich mir vorstellen, wie seine Eltern in der Generation meiner Eltern aufgewachsen wären usf. – unmöglich! Zumindest in diesem Rahmen. Vielleicht eine interessante Romanidee …

Ja, mich reizen manchmal gerade so unmögliche Dinge wie die Beantwortung dieser Frage, die natürlich niemand, auch du nicht als sein Enkel, wirklich beantworten kannst. Und ja, es ist ein Fass ohne Boden, denn auch seine Eltern wären dann wieder nicht so aufgewachsen, wie sie sind…
Dein Großvater hat mit seiner Ehefrau, dessen früher Tod ihn tief getroffen hat, neun Kinder bekommen, wovon das letzte im Jahr 1971 zur Welt kam. Auch wenn die Familie sehr dörflich gewohnt hat, werden auch zu Beginn der 1960er Jahre bis in den Südschwarzwald die Spatzen von den Dächern gepfiffen haben, dass eine Antibaby-Pille eine Schwangerschaft verhüten kann. Hast du deinen Großvater einmal danach gefragt, warum sie diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen haben? Denn immerhin war eine Familie mit neuen Kindern zu dieser Zeit schon die Ausnahme.

    Meine Großmutter wollte immer viele Kinder. Bei den Bauernfamilien war es auch in dieser Zeit noch nicht allzu unüblich, mehr als vier, fünf oder sechs Kinder zu haben. Und auch meine Onkel und Tanten, also die nachfolgende Generation, waren in dieser Hinsicht nicht zimperlich, sonst wären wir heute nicht so viele… Kinderreiche Familien gehören wohl ein bisschen zur Tradition meiner Familie und, was die Verhütung angeht, dürfte im Falle meiner Großmutter der Einfluss der katholischen Kirche maßgeblicher gewesen sein als die fortschrittlichen Ideen der urbanen Frauenbewegung.

Stimmt, sie hat ja auf dem Land, in einem kleinen Dorf gelebt. In den Städten haben sich die Frauen da schon eher dem Einfluss der Kirche entzogen. Bleiben wir beim Thema:
Zu den Feierlichkeiten anlässlich des neunzigsten Geburtstages deines Großvaters versammelte sich die Großfamilie, bestehend aus Kindern, Enkeln, Urenkeln und natürlich auch deren Partnern. Du hast deine Cousins und Cousinen getroffen und die Versammlung der Familie sicherlich genossen. Wie siehst du deine private Zukunft? Als Vater von maximal zwei Kindern, oder eher von vier und mehr Kindern, immer unter der Voraussetzung, dass es die wirtschaftlichen Verhältnisse und deine Gesundheit wie die deiner Partnerin zulassen?

    Wenn ich mich als Vater sehe, dann nicht mit mehr als zwei Kindern. Sicher hätte meine Partnerin da aber auch noch ein Wörtchen mitzureden.

Aber nur ein Wörtchen. 😉
Wie sehen deine beruflichen Pläne aus? Welche Genres willst du bedienen? Wirst du über die Lebenswege weiterer Personen schreiben? Oder eher Romane, Sachbücher, Krimis?

    Als nächstes muss ein Roman her!

Dann mal zu – eine Romanidee, dazu noch eine interessante, hast du ja schon!
Ich danke dir für die Bereitschaft zu diesem Interview und darf dir, sowohl für dein privates Glück, wie auch für deinen weiteren beruflichen Erfolg, alles Gute wünschen!

Kein Held von Valentin Moritz

Kein Held
Badischer Landwirtschafts-Verlag 2020
Hardcover
224 Seiten
ISBN 978-3-9818089-8-8

Bildquelle: Valentin Moritz
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