Eine Graphic Novel aus Taiwan!
Tsai Kun-lin – Die gestohlenen Jahre* ist bereits der zweite von vier Bänden, die im Grunde genommen eine Einheit darstellen. In einer Graphic Novel, einer ausführlichen Comicform, berichtet Yu Pei-yun vom Leben des Tsai Kun-lin, der ihr und dem Illustrator Zhou Jian-xin in vielen Gesprächen über sein Leben berichtet hat. Diese Fortsetzung knüpft direkt an den ersten Band, der mit der Abführung zum Verhör endet: Nachdem Kun-lins ahnungsloser Bruder Kun-chang den Militärpolizisten geradewegs in seine Arme geführt hat, gerät der knapp Zwanzigjährige am 10. September 1950 unschuldig in die Fänge von Chiang Kai-shek. Sein einziges Vergehen bestand darin, während der Mittelstufe einem Lesezirkel anzugehören, der als „aufrührerische Vereinigung“ eingestuft wurde. Kun-lin wird unvermittelt aus seiner Arbeit gerissen, ohne zu wissen, ob er seine Familie oder heimliche Liebe Yang Bi-ru jemals wiedersehen wird.
Der Festgenommene wird tagelang geschlagen und mit brennenden Zigaretten sowie Elektroschocks gequält, bis er schließlich ein erzwungenes Geständnis unterschreibt. In einer winzigen Gefängniszelle sitzt er von Schüttelfrost geplagt ein und immer wieder werden Häftlinge exekutiert. Kun-lin wird in eine „Verwahranstalt“ überführt, wo er mit vielen anderen in eine enge, heiße und stickige Zelle gepfercht wird und die Schreie der Gefolterten hört. Nach erneuter Verlegung ist sein Schlafplatz direkt neben einem Urinaleimer auf dem Fußboden. Jeden Morgen werden die Namen der zum Tode Verurteilten aufgerufen.
Am 19. November 1950 wird Kun-lin wegen der Mitgliedschaft einer aufrührerischen Vereinigung und Verteilung von Flugblättern zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er kann kaum Freude darüber empfinden, dass über ihn kein Todesurteil verhängt wurde. Immerhin darf er nun Besuch empfangen, sein Bruder kommt und später kann er auch den Vater durch ein kleines Fenster sehen. Kurz darauf wird er ein weiteres Mal verlegt, bevor er in eine „Rehabilitierungsanstalt“ kommt, bei der es sich um ein Konzentrationslager handelt, in dem die Häftlinge einer geistigen Umerziehung unterzogen werden.
Mit eintausend weiteren Gefangenen gelangt Kun-lin nach zweitägiger Fahrt in fensterlosen Laderäumen eines Transportschiffes am 17. Mai 1951 zwecks Umerziehung auf die Insel Lü Dao mitten im Pazifik. Die Häftlinge erwartet Schwerstarbeit, Kun-lin erlernt Ackerbau, meldet sich zum verantwortungsvollen Reis- und Schweinedienst und ein unter den Insassen befindlicher Arzt gibt ihm einen Ratschlag bezüglich seines juckenden Hautausschlags Pellagra, Folge einer Mangelernährung. Zum Ende seiner Inhaftierung wird Kun-lin für seine Bescheidenheit und Strebsamkeit gelobt. Mit einem Fischerboot verlässt er am 10. September 1960 die Insel und kehrt zu seiner Familie zurück, wo man ihm mitteilt, dass sich sein Vater ein Jahr nach seiner Verhaftung das Leben genommen hat.
Die ausdrucksstarken Illustrationen von Zhou Jian-xin verkörpern das nicht enden wollende Leiden, die Brutalität der Regierung gegenüber Andersdenkenden, Fassungslosigkeit und Trauer wie auch die Wiedersehensfreude nach der Freilassung. Eine Ergänzung findet die Graphic Novel Tsai Kun-lin – Die gestohlenen Jahre* durch Erklärungen von Yu Pei-yun, die das Leben des Protagonisten, aber auch Chinas Geschichte betreffen. Kun-lins Erinnerungen gehen zu einem seiner ehemaligen Lehrer aus der Mittelschule, dem er einmal in der Haft begegnet. Er liest den anderen Häftlingen die Briefe ihrer Angehörigen vor oder schreibt für sie. Mit einem jungen Mann singt er ein Lied, das den Müttern gewidmet ist, und Kun-lin muss ertragen, dass sich der Mann kurz nach dem gemeinsamen Gesang von einer Felsklippe ins Meer stürzt. Den andauernden Schmerz wegen des Verlustes engster Freunde unterdrückt er mit harter Arbeit und nur die Fürsorge und Kameradschaft unter den Häftlingen gibt ihm die Kraft und den Mut zum Durchhalten.
Die zutiefst bewegende und berührende Lebensgeschichte von Tsai Kun-lin macht auch deutlich, dass er Liedern eine besondere Bedeutung beimisst. So finden sich wiederholt Hinweise auf deren Ursprung. Ergreifend ist der Gedanke, wie er das zu Beginn des 20. Jahrhunderts weltweit bekannt gewordene neapolitanische Lied „Torna a Surriento“ nach seiner Freilassung auf der Überfahrt in der japanischen Version gesungen hat, was beim Leser zwangsläufig Gänsehaut erzeugt.
Tsai Kun-lin – Die gestohlenen Jahre von Yu Pei-yun
Übersetzung von Johannes Fiederling
Baobab Books 2023
Klappenbroschur
180 Seiten
ISBN 978-3-907277-19-5