Rückkehr nach Wedding – Regina Scheers Roman über Erinnerung, Identität und Verfolgung

Buchcover des Romans Gott wohnt im Wedding

Ein Ort der Vielfalt und Erinnerung

Im Berliner Ortsteil Wedding leben viele Menschen mit Migrationshintergrund, die aus den unterschiedlichsten Kulturen stammen. Dort ist auch Leo Lehmann, der Protagonist des Romans Gott wohnt im Wedding*, aufgewachsen. Im Jahr 1948 wanderte er nach Israel aus und kehrt nach über siebzig Jahren mit seiner Enkelin Nira wegen einer Erbschaftsangelegenheit zurück. Immer wieder steht er an der Stelle, an der er seinen Freund Manfred zum letzten Mal sah. Als „U-Boote“ fanden die beiden Juden nachts Unterschlupf bei Gertrud Romberg. Doch offensichtlich war sie eine Verräterin, denn ihre Wohnung wurde für Manfred zur Falle.

Familiengeschichte und persönliche Tragödien

Der Roman erzählt die Familiengeschichte von Leo Lehmann, dessen Eltern im Konzentrationslager ums Leben kamen. Seine Frau Edith ist bereits seit zwanzig Jahren tot, und der Besitz ihrer Mutter wurde vom Deutschen Reich eingezogen. Bei der Konfrontation mit seiner Vergangenheit erinnert sich Leo als alter Mann an längst vergessen geglaubte Begebenheiten. In dem Haus, in dem er einst mit seinem verratenen Freund Manfred untergetaucht war, wohnt nach seiner Rückkehr immer noch die inzwischen fast hundertjährige Gertrud. Als sie Leo auf der Straße entdeckt, wird auch sie von alten Erinnerungen heimgesucht, die schwer auf ihrem Gewissen lasten.

Leila Fidler und die Geschichte der Sinti und Roma

Eine Nachbarin von Gertrud ist die von ihrem Mann getrennt lebende Leila Fidler. Sie erfährt von ihrer Großmutter Frana und ihrem Vater Joschko die Familiengeschichte und dass ihnen im Jahr 1964 von den polnischen Behörden alle Pferde und Planwagen genommen wurden. Aus Mitleid mit den Hinzugezogenen – Kriegsflüchtlingen, Sinti und Roma –, die eine ähnliche Sprache wie das von ihrer Familie gesprochene Sintitikes sprechen, übersetzt die Sozialarbeiterin amtliche Schreiben und füllt Fragebögen aus.

Authentizität durch reale Figuren und historische Details

Mit direkter Rede geht Regina Scheer sparsam um. Durch zahlreiche frei erfundene Namen kann der Leser leicht den Überblick verlieren. Authentische Personen sind etwa der der Hitlerjugend zugehörige Walter Wagnitz, der in der Silvesternacht 1933 niedergestochen wurde und dem zu Ehren eine Straße im Wedding umbenannt wurde. Eine weitere reale Figur ist Reichsjugendführer Artur Axmann. Korrekt sind auch die Angaben zu seinem weiteren Lebensweg – etwa, dass er nach dem Krieg den Decknamen Erich Siewert annahm. Der fiktive Plot mit Datums- und Ortsangaben vermittelt insgesamt einen starken Eindruck von Authentizität. Wie die Autorin deutlich macht, waren Umbenennungen von Gebäuden und Straßen zu jener Zeit üblich.

Identität, Schuld und die Last der Vergangenheit

Sehr eindrucksvoll schildert Regina Scheer das Schicksal von Kriegskindern, die auf sich allein gestellt waren, sowie das Leid der Überlebenden, deren Kraft nach dem Krieg nicht mehr zum Weiterleben reichte, sodass sie ihrem Leben ein Ende setzten. Leo fragt sich, ob er Deutscher, deutscher Jude oder Israeli ist – eine Frage, auf die er keine Antwort findet. Kritische Worte äußert Nira zum Staat Israel, denn zum Entsetzen ihres Großvaters Leo sieht sie ihre Wurzeln in Deutschland.

Ein Roman über Minderheiten und kollektive Erinnerung

Regina Scheer thematisiert in ihrem Roman Gott wohnt im Wedding* das Schicksal von Minderheiten, die Verfolgung von Juden, Roma und Sinti und weist auf ein mögliches Dilemma zwischen Serben und Bosniern hin. Eine besonders interessante Perspektive ergibt sich durch die Passagen, in denen das Mietshaus im Wedding aus seiner eigenen Sicht erzählt. Zugegebenermaßen ist das Buch nicht jedermanns Sache, da die Figuren häufig nur beobachten oder in Erinnerungen schwelgen und die Familienchroniken bis ins ausgehende 19. Jahrhundert reichen. Wer sich jedoch auf den in jeder Hinsicht umfangreichen Roman einlässt, den erwartet ein anspruchsvoller literarischer Hochgenuss.

Gott wohnt im Wedding von Regina Scheer

Buchcover des Romans Gott wohnt im Wedding
Penguin Verlag 2019
Hardcover mit Schutzumschlag
416 Seiten
ISBN 978-3-328-60016-9

Bildquelle: Penguin Verlag

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