Die Anwältin Barbara und ihr Ehemann, der Publizist Gernot Maienfeld, leben in einer großzügigen Eigentumswohnung in Stuttgart, die sie Ende der 1980er Jahre gekauft haben. Als Barbaras Eltern kurz nacheinander verstorben sind, hat sie völlig unerwartet einen Teil des Millionenvermögens aus deren Textilfabrik geerbt. Obwohl sie die Erbschaft zunächst ausschlagen wollte, hat Gernot sie überredet, mit einem Teil des Geldes einige Organisationen zu unterstützen. Doch das ausschlaggebende Argument für sie war, dass sie sich mit dem Geld eine kleine Wohnung in Stuttgart, Frankfurt oder München leisten könnten. Die Aussicht, aus dem alten Haus in Buchsweiler auszuziehen und wieder in einer Stadt zu leben, war zu verlockend.
Doch statt einer kleinen Wohnung haben sie eine großzügige Wohnung mit Dachterrasse, Designermöbeln und einen Sportwagen für Gernot gekauft. Aus der einstigen Anwältin der RAF und dem linken Publizisten, der gegen das System und den Kapitalismus anschrieb, waren bourgeoise Salonlinke geworden. Im Laufe der Jahre haben sie mehr Geld ausgegeben, als sie mit ihrer Arbeit einnahmen und irgendwann war das Erbe aufgebraucht. Sie hätten entweder die Wohnung verkaufen müssen oder eine Hypothek aufnehmen.
Inzwischen sind sie mit zwei Monatsraten für die Hypothek im Rückstand und in wenigen Wochen wird die Bank die volle sechsstellige Summe einfordern, wenn sie nicht endlich tätig werden. Also bittet Barbara ihre Kinder um Hilfe. Leon und Luise lehnen jegliche Unterstützung ab, da sie nicht über die finanziellen Mittel verfügen, während Ben zwar auch keine Zusage macht, es sich aber überlegen will. Doch selbst, wenn Ben für die zwei rückständigen Monatsraten aufkommen würde, wäre ihnen damit auf Dauer nicht geholfen. Sie brauchen einen Plan B.
Gernot, der eine Anfrage von einem Sachbuchverlag erhalten hat, zieht in Erwägung, eine Biografie über seinen Halbbruder Lukas Isensee zu schreiben, der seit dem Anschlag der dritten Generation der RAF auf den Staatssekretär Rombach spurlos verschwunden ist. Doch würde das zu wenig einbringen, um ihr Problem zu lösen. Deshalb schlägt Barbara vor, die beiden untergetauchten Terroristen Dagmar und Walter, denen sie in der Vergangenheit oft geholfen haben, um einen Gefallen zu bitten. Die beiden Ex-Terroristen finanzieren ihren Lebensunterhalt durch Überfälle auf Geldtransporter und Supermärkte, der letzte mit einer Beute von beinahe achthunderttausend Euro. Sollten sie wirklich Kontakt zu Walter und Dagmar aufnehmen? Die beiden könnten ihre Bitte als Erpressung ansehen, und es ist nicht absehbar, wie sie reagieren werden.
Ob es die dritte Generation der RAF tatsächlich gegeben hat, ist bis heute umstritten. Es hat in den Jahren von 1986 bis 1991 drei Anschläge gegeben, die nie aufgeklärt wurden, aber durch Bekennerschreiben der Roten Armee Fraktion zugeschrieben werden. Doch wurden diese Attentate mit einer enormen Präzision gegen Opfer ausgeführt, die eher untypisch für die Anschläge der RAF waren. Ellen Sandberg hat in ihrem Roman Keine Reue* dieses Thema aufgegriffen und vor dem Hintergrund realer Ereignisse, den Anschlägen der RAF bis zu ihrer Selbstauflösung, eine fiktive Geschichte aufgebaut. Der Roman wird in zwei Zeitsträngen erzählt, die in den Jahren 2019 und 1988 angesiedelt sind. Im stetigen Wechsel schildert die Autorin in zwei Handlungssträngen die Erlebnisse von Barbara und Lukas Isensee. Durch Rückblicke in die 1970er und 1980er Jahre werden reale Ereignisse mit fiktiven Erlebnissen der Protagonisten zu einem äußerst spannenden Plot verwoben. Ellen Sandberg schildert die politischen Motive, durch die aus einigen der Studenten, die Mitte der 1970er Jahre zusammen in einem besetzten Haus wohnten und mit Worten gegen das System rebellierten, gewaltbereite Terroristen wurden.
In zwei weiteren Handlungssträngen sind Ben, der älteste Sohn von Barbara und Gernot sowie die Kommissarin Charlotte Bodmer die Handlungspersonen. Ben, der versucht hat, einen Ehrenmord auf offener Straße zu verhindern, ist dabei selbst verletzt worden. Er ist der einzige Zeuge, aber leider kann er sich nicht an die Tat erinnern. Doch die Familienmitglieder aus dem Clan des Täters wollen verhindern, dass er jemals Aussagen kann. So sucht Ben Zuflucht in seiner alten Heimat in der Eifel. Charlotte, die ein persönliches Interesse daran hat, den Täter zu überführen, spürt Ben in Buchsweiler auf und will ihn unbedingt beschützen. Durch die ländliche Umgebung kommen bei Ben viele Erinnerungen an seine Kindheit auf, die er mit seinen beiden Geschwistern dort verbracht hat. So entsteht Stück für Stück eine Familiengeschichte, in der die Eltern politisch engagiert waren, ihre Kinder vernachlässigten und das antiautoritäre Erziehung nannten.
Ellen Sandberg hat in ihrem Roman Keine Reue* geschickt eine Familiengeschichte mit einem politischen Thema zu einem grandiosen Gesamtwerk zu vereinen. Der in einem flüssigen Schreibstil verfasste, vielschichtige Roman bietet beste Unterhaltung, einige Hintergrundinformationen zur RAF und ist spannend wie ein Thriller.
Keine Reue von Ellen Sandberg
Penguin Verlag 2023
Hardcover mit Schutzumschlag
416 Seiten
ISBN 978-3-328-60313-9