Die Insassin von Elisabeth Norebäck

Die InsassinLinda Andersson wacht im Universitätskrankenhaus im schwedischen Örebro auf, nachdem eine Insassin im Frauengefängnis Biskopsberg, in dem sie eine Haftstrafe verbüßt, mit einer spitzen Eisenstange auf sie eingeschlagen hat. Ihre Verletzungen reichen quer von der linken Seite ihres Kopfes über Gesicht, Brust und Taille bis zum Oberschenkel. Völlig entstellt wird sie zurück in einen Zellentrakt gebracht, in dem sie auf die berüchtigte und gefährliche Adriana trifft. Allen Erwartungen zum Trotz interessiert sich Adriana für Lindas Geschichte, zumal sie die Tochter der berühmten Sängerin Kathy ist und mit dem bekannten Musiker Simon verheiratet war. Adriana wundert sich, wieso ausgerechnet Linda keinen Besuch erhält, worauf diese ihr antwortet, dass sie von ihrer Schwester Mikaela und ihrem Freund Alex enttäuscht wurde. Beide hätten die Aussagen vor Gericht verweigert. Doch Adriana gibt nicht auf und drängt Linda, für eine Wiederaufnahme des Prozesses zu kämpfen. Linda stellt fest, dass sie in den vergangenen Jahren viele Erinnerungen verdrängt hat und einiges kommt ihr im Nachhinein selbst merkwürdig vor. Sie bittet ihre Schwester, sie zu besuchen und fordert die Gerichtsakten an.

Der Leser erfährt aus Lindas Ich-Erzählung und den Gesprächen, die sie mit Adriana führt, von ihrem früheren Leben: Als Musiklehrerin hätte sie, wie sie selbst äußert, ein privilegiertes Leben geführt. Nachdem sie von ihrem Ehemann Simon betrogen wurde, wollte sie sich scheiden lassen und wäre glücklich gewesen, mit zweiunddreißig Jahren in Alex eine neue Liebe gefunden zu haben. Vor Glück hätte sie eine Party in ihrem Sommerhaus auf Färingsö geben wollen und könne sich nur noch daran erinnern, am nächsten Morgen voll mit fremdem Blut besudelt im Gästehaus aufgewacht zu sein, von wo sie direkt mit der Begründung, ihren Ehemann ermordet zu haben, abgeführt worden sei. Fünf Monate hätte man sie in Untersuchungshaft gehalten, für die es in Schweden keine Obergrenze gäbe. Im darauffolgenden Prozess wäre sie zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Elisabeth Norebäck lässt ihre Protagonistin in ihrem Thriller „Die Insassin“ immer wieder auf ihre Kindheit und schöne Wochenenden mit der berühmten Mutter Kathy sowie der jüngeren Schwester Mikaela zurückblicken. Sie erinnert sich, wie Kathy an ALS erkrankte, zunehmend abgebaut hat und schließlich erbärmlich an der Krankheit verstarb. Doch wie sie bereits im Prozess ausgesagt hat, kann sie sich nicht daran erinnern, warum ihr Kleid voll Blut war und wer ihren Mann umgebracht haben könnte, zumal sie auch nicht sagen kann, wie sie ins Gästehaus gekommen ist. Anfangs immer noch auf ein Missverständnis hoffend, ist ihr mittlerweile klar, dass sie nicht einmal auf die Unterstützung ihrer Schwester oder ihres Freundes hoffen kann. Erst Adriana macht ihr Mut und hilft ihr, sich den Tatsachen zu stellen, weiter zu kämpfen und nicht den Kopf hängen zu lassen.

Sehr ausgiebig und mitfühlend beschreibt Elisabeth Norebäck den Alltag der Insassen eines Gefängnisses, in dem jeder Tag gleich eintönig abläuft und die Post, da sie die einzige Verbindung zur Außenwelt ist, zu einer abwechslungsreichen Unterbrechung wird. Über lange Strecken hinweg bewegt sich die aktuelle Handlung kaum weiter, da die Protagonistin überwiegend von ihren Erinnerungen erzählt. Erst ab der zweiten Hälfte nimmt der Plot an Fahrt auf und Linda hat eine Ahnung, wer der Mörder ist. Der gut konstruierte und genial aufgebaute Thriller bewegt sich zunehmend in eine psychologische Dimension und überrascht mit immer neuen, völlig ungeahnten Enthüllungen.

Die Insassin von Elisabeth Norebäck

Die Insassin
Übersetzung von Daniela Stilzebach
Heyne Verlag 2023
Klappenbroschur
384 Seiten
ISBN 978-3-453-42281-0

Bildquelle: Heyne Verlag


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