Die Einsiedlerin im Wald – Maria Steiners abgeschiedenes Leben
Die 72-jährige Maria Steiner lebt seit Jahrzehnten allein in einem abgelegenen Haus im Wald, das sie von ihrer Tante Bruni geerbt hat. Nur selten zieht es sie in das fünf Kilometer entfernte Dorf Talberg, wo sie aufgrund ihres zurückgezogenen Lebens und mysteriöser Gerüchte gefürchtet wird. An jenem schicksalhaften Tag, an dem der Jäger auf Marias Wunsch hin einen ihr einst anvertrauten Hund erlöst, erhält sie Besuch von der jungen Metzgerstochter. Das Mädchen bittet Maria, ihre ungewollte Schwangerschaft geheim zu halten – in der Hoffnung auf Hilfe von der als „Hexe“ verschrienen Alten. Tatsächlich überreicht Maria ihr einen Kräutertrank.
Unerklärliche Besuche und alte Geheimnisse
Der Tag bringt weitere Merkwürdigkeiten: Ein Fremder, der sich als Pilger ausgibt, bittet um eine Schlafgelegenheit im Heu. Maria, der die Gesellschaft von Menschen fremd geworden ist, gewährt ihm Gastfreundschaft. Am Morgen ist der Mann verschwunden – das Frühstück unberührt. Kurze Zeit später erhält Maria einen Brief von ihrer Tante Bruni – obwohl diese bereits vor 20 Jahren gestorben ist. Gleichzeitig wird im Dorf Kriminalinspektor Walter Göhring aktiv: Ein gewisser Harald Lang gilt als vermisst. Als die Tochter des Metzgers nach einem vermeintlich vergifteten Trank schwer krank wird, steht für die Dorfgemeinschaft fest, wer schuld ist – erneut Maria.
Die Vergangenheit als Schatten – Rückblicke in ein von Gewalt geprägtes Leben
Der Roman Talberg 1977*, zweiter Teil der Talberg-Trilogie von Max Korn, wird überwiegend aus Marias Perspektive erzählt. Rückblenden führen zurück ins Jahr 1920, als sie unter ihrem gewalttätigen Ehemann Fritz litt, sowie ins Jahr 1955, als ihre Cousine Mathilde an giftigen Pilzen starb. Erst später wechselt die Erzählstimme zu weiteren Figuren.
Maria hat sich mit der Einsamkeit arrangiert, ihre Verbindung zur Natur ist nahezu spirituell – sie versteht es, in Tiere und Bäume „hineinzuhorchen“. Der Ermittler Walter Göhring, dessen Name bei seiner ersten Nennung irrtümlich als Franz erscheint, nähert sich dem Fall eher orientierungslos. Statt Fortschritte zu machen, verwirrt ihn das Puzzle um Maria immer mehr. Früh im Roman deutet sich an: Im Keller der alten Frau liegt ein düsteres Geheimnis verborgen.
Zeitgeschichte in Prosa – Historische Tiefenschärfe ohne Pathos
Max Korn verwebt reale politische und gesellschaftliche Ereignisse in seine Erzählung: den abgeschafften § 218 mit der Fristenlösung von 1974, den Chemieunfall von Seveso 1976, Kriegsverbrechen zum Ende des Zweiten Weltkriegs sowie die NS-Euthanasie. Korn verzichtet auf drastische Begriffe, schildert jedoch eindrücklich – teils erschütternd – die Folgen menschlicher Grausamkeit.
Stilistisch außergewöhnlich: Der Autor verzichtet weitgehend auf direkte Rede und setzt stattdessen auf atmosphärisch dichte Beschreibungen. Dabei gelingt es ihm, Ereignisse mit sprachlicher Eleganz und erzählerischer Tiefe aufzubereiten, ohne ins Langatmige zu verfallen.
Fazit: Ein literarischer Krimi mit historischem Gewissen
Talberg 1977* ist weit mehr als ein Kriminalroman. Max Korn liefert ein feinfühliges Porträt einer gezeichneten Frau und ihres Umfelds – voller Andeutungen, psychologischer Tiefe und gesellschaftlicher Relevanz. Wer die düstere Stimmung literarischer Dorfchroniken schätzt, wird sich diesem Roman schwer entziehen können. Die Vorfreude auf den abschließenden Band Talberg 2022, der im Mai erscheint, ist mehr als berechtigt.