Die siebenundvierzigjährige Olivia ist Dozentin für Kunstgeschichte an der Universität in Göttingen. Mit ihrem Ehemann Philip bewohnt sie ein großzügiges Haus, das über eine Wohnung für den mittlerweile in England studierenden Sohn Vincent verfügt. Zu Philips Geburtstag organisiert sie eine Überraschungsparty mit all seinen Freunden. Die Überraschung ist ihr auch gelungen, da Philip davon ausging, dass keiner seiner Freunde Zeit hat zu kommen. Allerdings ist Olivia von der Rede ihres Mannes überrascht, als er darin verkündet, aufs Land ziehen zu wollen, wo er einen alten Hof sanieren will. Um die Kosten zu decken, will er ihr Haus verkaufen. Olivia ist wie vor den Kopf gestoßen, zumal ihre gemeinsame Planung so aussah, dass sie in dem Haus alt werden wollten. Wie es scheint, hat Philip alles Organisatorische bereits mit seinem Partner Tom besprochen, mit dem er zusammen ein Architekturbüro leitet.
Aber für Olivia kommt es noch schlimmer, als ihr Philip wenig später eröffnet, dass er sie verlassen wird. Ausgerechnet für die viel jüngere Aimee, ihre Freundin, die ein Yogastudio leitet und von der sie selbst einen Gutschein für einen Workshop als Geschenk für ihren Mann gekauft hat. Wie dumm konnte sie nur sein? Als er immer später nach Hause kam, hat sie sich nichts dabei gedacht. Und jetzt fühlt sich Olivia gleich doppelt betrogen, von ihrem Mann und ihrer Freundin! Sie ertränkt ihren Frust im Alkohol und glaubt, nie wieder Fuß fassen zu können. Da steht ihre Freundin Babette vor der Tür und besteht unnachgiebig darauf, dass sich Olivia endlich duscht und ihr Leben selbst in die Hand nimmt.
Lucia Sperling beginnt ihren Roman Wohin gehst du, wenn ich bleibe* mit kleinen Rückblicken, um ihn dann chronologisch fortzusetzen. Im Verlauf der Handlung verändert sich ihre Protagonistin zusehends von einer Frau, die ihr Leben in Trümmern sieht, weil ihr Ehemann ihr über viele Jahre Halt gegeben hat. Sie selbst hat sich nicht verwirklicht und war eher um Harmonie in ihrer Ehe bemüht. Auf die Frage ihrer Freundin Babette, wie der Sex mit Philip war, antwortet sie ausweichend, dass es nicht weh getan hätte. Es gehörte halt dazu. Sie hat sich auf gemeinsame Abende im Alter auf der Dachterrasse gefreut, wo sie schon so viele schöne und harmonische Stunden verbracht haben.
Es ist ein langer Abnabelungsprozess mit Höhen und Tiefen, den Olivia durchläuft. Erst die zufällige Bekanntschaft eines Rechtsanwaltes und ihr Mut zu Tennisstunden machen aus der am Boden Liegenden eine selbstbewusste Frau, die egoistisch nur noch das tut, was ihr Spaß macht und was sie wirklich will. Als sie Ari und deren Tochter May begegnet, sieht es für Olivia zunächst so aus, dass ihre Probleme noch größer werden. Doch wie von Zauberhand fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen.
Die Autorin nimmt ihre Leser mit durch die Stadt Göttingen und es darf vermutet werden, dass sie selbst gerne auch die ausgefallenen Eissorten isst, die sich im Plot ihre Protagonisten schmecken lassen. Ausführlich beschreibt sie die auf der Dachterrasse verzehrten exotischen Köstlichkeiten von einem libanesischen Lokal, wobei viele Leser der Rezensentin zustimmen dürften, von diesen Speisen noch nie gehört zu haben. Die Herbarium Bar im Hotel Freigeist in Göttingen, in die Olivia mit ihrer Freundin Babette geht, gibt es übrigens wirklich. Auf der Homepage wirbt die Bar mit „16 Signature Drinks mit ungewöhnlichen Aromen“. Und nicht zuletzt verrät Lucia Sperling in ihrem hoffnungsvollen Roman Wohin gehst du, wenn ich bleibe* noch ein Rezept des Cocktails Hemingway Daiquiri, für den Olivia schwärmt.
Wohin gehst du, wenn ich bleibe von Lucia Sperling
Knaur Verlag 2023
Taschenbuch
320 Seiten
ISBN 978-3-426-52992-8