Nadjas Katze von Ulrich Ritzel

Nadjas KatzeNadja Schwertfeger erwirbt von einem Antiquar das Heft „Die Nachtwache des Soldaten Pietzsch“ des Autors Paul Anderweg, in dem es um Ereignisse geht, die sich in der Nacht vom 19. auf den 20. April 1945 in einem Dorf zugetragen haben. Wiederholt ist von einem weiblichen Flüchtling und ihrem fünfjährigen Sohn die Rede, doch interessiert sich Nadja vor allem für die vom Autor beschriebene Stoffkatze, die mit „Nadjas Katze“ identisch ist. Sie selbst wurde als Säugling im Februar 1946 vom Ehepaar Schwertfeger adoptiert und weiß lediglich, dass ihre leibliche Mutter eine unbekannte Polin oder Russin gewesen sein soll. Über die Stoffkatze hofft sie, mehr über ihre Mutter und ihr Schicksal zu erfahren, wozu sie den Ort ausfindig machen muss, in der eine gewisse Elfie Stoffkatzen genäht haben soll.

Mit ihrer Freundin Wally kann Nadja das Dorf Wieshülen anhand markanter Stellen aus der Geschichte ausfindig machen. Dort kann ihnen der Leiter des Arbeitskreises für Heimatgeschichte nicht weiterhelfen, aber seine Ehefrau weiß von einem Polizisten, der in Wieshülen aufgewachsen ist und heute in Berlin lebt. Nadja macht sich alleine zu ihm auf den Weg und bittet Hans Berndorf, den früheren Leiter des Morddezernats Ulm, um Unterstützung. Nachdem auch er das Heft gelesen hat, ist sein Interesse ebenfalls geweckt. Er will Paul Anderweg aufspüren, der eine Verbindung zu dem Dorf gehabt haben muss. Ganz zufällig stößt er bei seinen Recherchen auf einen Packen Altpapier mit einem Brief, dessen Handschrift er nur zu gut kennt. Außerdem befinden sich zwei weitere Geschichten desselben Autors darunter, der eigentlich Peter Wedel hieß.

Der Roman „Nadjas Katze“ von Ulrich Ritzel beginnt mit dem Kauf des Heftes, den Nadja als Sammlerin vergessener Autoren tätigt. In kursiver Schrift folgt auf achtundzwanzig Seiten der Inhalt dieser in sich abgeschlossenen Geschichte, was auch bei den im weiteren Verlauf von Berndorf in einem Kniestock eines Dachbodens aufgefundenen zwei Geschichten beibehalten wird. Über einen Zeitraum von zweieinhalb Wochen versuchen sowohl Berndorf, als auch Nadja die Jahrzehnte zurückliegenden Ereignisse zu rekonstruieren. Bis Berndorf jedoch tatsächlich einem vertuschten Mordfall kurz vor Kriegsende auf die Spur kommt, beim Oberstaatsanwalt eine Exhumierung beantragt und er nicht nur das Rätsel um Nadjas Mutter, sondern auch das um ihren Vater löst, ist es ein langer Weg „um einhundert Ecken“, bei dem er viele Puzzleteile ineinander fügen muss.

Wie sein Protagonist Berndorf ist Ulrich Ritzel im Jahr 1940 geboren und in der Schwäbischen Alb aufgewachsen, was ihm ermöglichte, einiges an Lokalkolorit in die Handlung einfließen zu lassen, auch wenn das Dorf Wieshülen nicht wirklich existiert. Einigen seiner Umschreibungen wie „zufriedenstellen gegessen“ oder „endlich zur Sache reden“ ist das beachtliche Alter des Autors anzumerken, und sowohl Nadja, wie auch Berndorf, wirken unnahbar. Es ist bemerkenswert, dass Ulrich Ritzel nicht den Überblick über die verschiedenen Stationen seiner beiden Protagonisten verloren hat, denn sie werden von den aufgesuchten Personen immer wieder mit weiteren Hinweisen versorgt, bis sich der Kreis letztendlich für sie schließen kann. Trotzdem, oder gerade deshalb, zieht sich der Plot in die Länge und der Autor hätte besser auf einige Ausführungen verzichtet.

Besonders erwähnenswert sind allerdings die Recherchen, die Ulrich Ritzel für seinen Roman „Nadjas Katze“ betrieben hat: Es gab nämlich nicht nur das allseits bekannte Warschauer Ghetto, sondern auch eines in Litzmannstadt, dem heutigen Lodz, wo nur wenige Überlebende am 19. Januar 1945 von den Sowjets befreit werden konnten. Ebenfalls kurz vor Kriegsende, am 13. April 1945, sahen in der Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen über eintausend Gefangene einem qualvollen Tod entgegen, und das nur, damit die heranrückenden Amerikaner nicht ihre ausgemergelten Körper sehen. Tatsache ist leider auch, dass rund 2000 polnische Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren für das von Lodz nach Ulm verlegte Telefunken-Röhrenwerk verschleppt wurden, um dort im Dienste der Rüstungsindustrie als Zwangsarbeiterinnen eingesetzt zu werden. Der Roman leistet mit diesem Zeitzeugnis einen wichtigen Beitrag gegen das Vergessen der Gräueltaten zum Kriegsende.

Nadjas Katze von Ulrich Ritzel

Nadjas Katze
btb Verlag 2017
Taschenbuch
448 Seiten
ISBN 978-3-442-71581-7

Bildquelle: btb Verlag
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