Marschmusik von Martin Becker

MarschmusikDer Roman „Marschmusik“ zeichnet das Leben eines namenlosen Protagonisten nach, der seine Mutter für drei Tage in dem fiktiven Ort Mündendorf besucht, einer Kleinstadt am Rand des Ruhrgebiets. Nach dem Tod des Vaters lebt sie alleine in einem Reihenhaus, wo sie täglich von einem Pflegedienst versorgt wird. Um nicht im Elternhaus übernachten zu müssen, verbringt der Sohn die Nächte bei seinem Bruder. So sehr er sich jedes Mal vor dem Besuch bei der Mutter fürchtet, so hat er noch mehr Angst vor der letzten Nacht. Er zählt die Tage und Stunden bis zum „Bergfest“ und danach bis zu seiner Abreise, der er mit Wehmut entgegensieht und äußert: „Ich will hier nicht weg. Ich halte es hier keine Sekunde länger aus“.

Die raschen Themenwechsel und nicht deutlich gemachten Zeitsprünge erschweren dem Leser den Einstieg in den drei Kapitel umfassenden Plot, zumal alle Handlungen im Präsens geschrieben sind und ihm damit suggerieren, dass die Szenen zeitgleich stattfinden. Zunächst lässt Martin Becker seinen Protagonisten in Mündendorf ankommen. Doch im nächsten Absatz erzählt dieser von seinem Posaunensolo in einer Schützenhalle, im darauffolgenden hält er ein Stück Kohle in der Hand, um dann vom besten Freund seines Vaters zu erzählen. Erst mit dem zweiten Kapitel, in dem es um eine Grubenfahrt geht, gewinnt der Roman an Struktur, während der Ich-Erzähler vom Leben seiner Eltern und seinem eigenen im dritten Kapitel in chronologischem Zeitraffer berichtet. Wenn zunächst nur von Jupp und Barbara im Erzählstil die Rede ist, vollzieht sich im letzten Kapitel ein Wechsel: Mit einem geschickt angewandten strategischen Mittel wiederholt der Autor ganze Absätze, nur mit dem Unterschied, dass nunmehr der Protagonist in der Ich-Form von Vater und Mutter spricht.

Von Barbara geht die Initiative für ein erstes Treffen mit dem Kohlenhauer Jupp aus, woraufhin sie sich in der Sportlerklause treffen. Schnell heiraten die beiden, machen mit dem Moped eine Hochzeitsreise und arbeiten hart. Nach einem Unfall nimmt Jupp eine Arbeit als Schmied an, und die Familie zieht nach Mündendorf. 1982 ist das Reihenhaus bezugsfertig und das dritte Kind, der Protagonist, wird geboren. Mit vierzehn Jahren spielt er für einen Musikzug Marschmusik und träumt von einer Karriere als Berufsmusiker. Nach einer Aneurysmaruptur der Mutter pflegt sie der Vater jahrelang bis zu seinem Tod.

Eines Tages erhält der Protagonist Fotos von Hans Hartmann, dem besten Freund seines Vaters, der wie dieser Kohlenhauer war. Hartmann organisiert eine Führung unter Tage, denn der Sohn „will endlich wissen, wie das war.“ Er will den Mann kennenlernen, der sein Vater war. In diesem Zusammenhang erklärt der Autor die unterschiedlichen Wetter und Strecken unter Tage, spricht von der früher gefürchteten Silikose, dem Zechensterben sowie den Ewigkeitskosten und macht den einzigartigen Zusammenhalt der Bergleute deutlich, der im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen einen „Unterschied wie Tag und Nacht“ ausmacht.

Martin Becker erinnert an eine Zeit, als es noch zum Plumpsklo oder zur Toilette auf den Flur ging, nur einmal in der Woche gebadet und im Ruhrgebiet die Wäsche auf der Leine schnell schmutzig wurde. Da die Rüstungsindustrie auf die Kohlegewinnung zur Stahlerzeugung für Waffen angewiesen war, wurden nicht alle Bergleute eingezogen. Der Autor bedient sich in seinem Roman „Marschmusik“ der im Ruhrgebiet üblichen Ausdrücke wie Maloche, schuften und bekloppt. Sein Protagonist begibt sich auf die Spurensuche nach seiner Vergangenheit, seiner Identität. Wie der Autor ist er Jahrgang 1982 und fährt von Fieber geschüttelt auf dem Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop ein, was deutliche autobiografische Züge aufweist. Der Plot strahlt eine eigenartige Atmosphäre aus, der Schreibstil ist gewöhnungsbedürftig, da konsequent auf eine „richtige“ wörtliche Rede verzichtet wird, denn im fortlaufenden Text kommen lediglich „sage/frage ich“ oder „sagt/fragt sie“ vor. Obwohl sich keine Fragen zum Fortgang der Handlung ergeben, fasziniert der anspruchsvolle und außergewöhnliche Roman von Martin Becker und hinterlässt eine angenehme Stille.

Marschmusik von Martin Becker

Marschmusik
btb Verlag 2019
Taschenbuch
288 Seiten
ISBN 978-3-442-71755-2

Bildquelle: btb Verlag
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