Christiane Auberlin und ihre Mutter Viktoria reisen nach Lindau. Grund für ihr seltenes Zusammentreffen ist die Beerdigung von Viktorias Mutter Eva. Die beiden Frauen werden von Viktorias Schwester Marlene begrüßt, doch entgeht Christiane deren angespanntes und leicht zu Streitereien führendes Verhältnis nicht. Am Bodensee, wo Marlene die Schnapsbrennerei ihrer verstorbenen Mutter weiterführt, kann Christiane auf die hilfreiche Unterstützung des Tierarztes Fabio und dessen Mitbewohner Brian zählen, nachdem sie sich einer herrenlosen Hündin angenommen hat. Sie trifft auf ihren alten Schulfreund Simon Bentele, was ihrer Tante Marlene jedoch missfällt. Christiane kann kein Verständnis für die offensichtlich verfeindeten Familien Auberlin und Bentele aufbringen, bis sie in einem für sie bestimmten Notizbuch ihrer Großmutter Eva von Marlenes Geheimnis erfährt.
Evas Aufzeichnungen beginnen damit, wie sie zunächst im Jahre 1938 als junges Mädchen und wohlsituierte Apothekertochter in Reichenberg glückliche Tage mit ihrer Freundin Molly verbrachte. Sie schreibt von ihrer heimlichen Liebe zu Jan, der sich nach Kriegsausbruch einer Untergrundbewegung anschließt. Eva sieht ihren Vater in den Krieg ziehen und erlebt mit ihrer inzwischen dem Alkohol verfallenen und kranken Mutter den Einmarsch der Russen, die sie aus Reichenberg vertreiben, das fortan nur noch Liberec genannt werden darf. Voller Beklemmung liest Christiane von dem langen und beschwerlichen Weg, der Eva schließlich bis zum Bodensee geführt hat.
Evas Schicksal steht in dem Roman „Marlenes Geheimnis“ von Brigitte Riebe stellvertretend für unzählige vertriebene Sudetendeutsche nach dem Zweiten Weltkrieg, zu denen auch die Mutter der Autorin gehörte. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass sie die schrecklichen Erlebnisse dieser Menschen so eindrucksvoll und authentisch schildern konnte: Die Vertriebenen wurden in Viehwaggons zusammengepfercht, nachdem sie sich lediglich eine Stunde auf den Abtransport vorbereiten konnten. Es kam zu willkürlichen Verhaftungen, Hinrichtungen sowie Plünderungen, und Massenvergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Die hungernden, Mittel- und Heimatlosen waren als Flüchtlinge nirgendwo willkommen und mussten Entlausungen sowie menschenunwürdige ärztliche Kontrollen über sich ergehen lassen.
Brigitte Riebe informiert über angeordnete Umbenennungen von Ortsnamen wie beispielsweise Kratzau in Chrastava, die bei Nichtbefolgung Strafen nach sich zogen. Außerdem weiß sie von den Schließungen der Universitäten in Prag durch die Nazis und deren grauenvolle Menschenversuche zu berichten. Weiterhin erinnert sie an den bei einem Attentat verletzten und wenig später verstorbenen Reinhard Heydrich, woraufhin das NS-Regime an der Bevölkerung von Lidice im Juni 1942 fürchterlich Rache nahm und ebenso an Vergeltungsmaßnahmen der Tschechen an den Deutschen in Prag. Neben guten Recherchen der historischen Hintergründe liefert die Autorin zusätzlich Wissenswertes über die Schnapsbrennerei und nennt als eine Grundvoraussetzung für einen guten Edelbrand, dass die Maische keine Kahmhaut haben darf. Der Roman „Marlenes Geheimnis“ von Brigitte Riebe, der natürlich auch nicht ohne eine Liebesgeschichte auskommt, ist aber vor allem ein wichtiges Zeitzeugnis, und durch den steten Wechsel der aktuellen Geschehnisse um Christiane, die sich zunehmend am Bodensee heimisch fühlt und ihrer Lektüre, die sie in vergangene Zeiten versetzt, fällt es dem auf den weiteren Verlauf neugierigen Leser schwer, das Buch aus der Hand zu legen.
Marlenes Geheimnis von Brigitte Riebe
Diana Verlag 2017
Hardcover mit Schutzumschlag
432 Seiten
ISBN 978-3-453-29205-5