Interview mit der Ameisenumsiedlerin und Autorin Christina Grätz

Christina Grätz
Foto © Andreas Grasser
Christina Grätz wurde 1974 geboren und ist in einem kleinen Dorf in der Lausitz aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie an der Humboldt-Universität in Berlin Biologie und arbeitete nach Abschluss des Studiums als Gutachterin im Umweltbereich. 2011 gründete sie das Unternehmen Nagola Re, dessen Geschäftsführerin sie ist. Für ihr Engagement um den Erhalt der Umwelt wurde sie 2016 als „Unternehmerin des Landes Brandenburg“ ausgezeichnet. 2018 erhielt sie den Sustainability Award 2018 in Berlin, auch stellvertretend für ihr vierzehnköpfiges Team und das gemeinsame Engagement für nachhaltiges Handeln in unserer Umwelt. Die dreifache Mutter hat bereits über 1300 Ameisennester umgesiedelt und lebt in einem kleinen Dorf in der Niederlausitz.

Hallo Christina! Mit deinem Buch Die fabelhafte Welt der Ameisen hast du als Autorin Neuland betreten. Wie du darin schon ausgeführt und in einem Vorgespräch auch mir gegenüber deutlich gemacht hast, ist das Schreiben nicht wirklich dein Ding. Was hat den Ausschlag gegeben oder dich letztendlich dazu bewogen, ein Buch über Ameisen zu schreiben, die dir mittlerweile sehr ans Herz gewachsen sind?

    Den Ausschlag hat eine Radiosendung gegeben, in der ich über unsere Arbeit und über die berührenden Geschichten, die wir dabei erleben, berichtet habe. Dieses Interview hörte eine Literaturagentin, die mich prompt kontaktierte und sagte: „Ich war so traurig, als Sie aufhörten zu erzählen und ich würde so gern mehr darüber erfahren! Sie müssen ein Buch schreiben!“. Und so kam eins zum anderen. Erst beim Schreiben ist mir bewusst geworden, dass die Arbeit mit den Ameisen meine Sicht, beziehungsweise meine Beziehung zur Natur grundlegend verändert hat. Früher hatte ich nur Augen und ein Herz für Pflanzen. Durch die wirklich großartigen Erlebnisse mit den Ameisen lernte ich dazu. So konnte ich all die Schönheit und Wunder, die ich bei Pflanzen kannte, jetzt auch bei Tieren entdecken.

In deinem Buch hast du von vielen, bis heute ungelösten Fragen im Zusammenhang mit den Ameisen geschrieben. Für mich haben sich beim Lesen gelegentlich Fragen ergeben, von denen ich glaube, dass nicht nur mich die Antworten interessieren: Immer wieder war von dem strengen Geruch und der Verätzung der Haut durch Ameisensäure die Rede. Besonders drastisch wird das anhand des Fotos von deinen Händen in der Buchmitte deutlich. Gibt es dafür eigentlich keine Schutzkleidung?

    Doch natürlich gibt es Schutzkleidung und viele Ameisenumsiedler oder Ameisenheger, wie wir auch genannt werden, nutzen diese. Ohne Handschuhe kann ich aber besser die Temperaturunterschiede im Ameisennest wahrnehmen und spüren, wo genau wichtige Strukturen im Nest anzutreffen sind, wie zum Beispiel die Kammern mit der Brut oder auch mit der oder den Königinnen. Wenn wir Königinnen zu Gesicht bekommen, nehme ich diese auch extra auf und setze sie in ein Glas, damit wir sie sicher und separat transportieren können. Obwohl die Königinnen schon deutlich größer als die Arbeiterinnen der Waldameisen sind, so sind sie doch noch kleine und grazile Tiere. Mit Handschuhen an den Händen fehlt mir einfach die Sensibilität und Sanftheit, um dieses besondere Tier zu „ergreifen“. Ich müsste befürchten sie dabei zu verletzen.

Du nimmst, aus Liebe und Achtung vor diesen kleinen Lebewesen, Verätzungen und Schmerzen an deinen Händen ganz bewusst in Kauf. Von der Seite habe ich das gar nicht gesehen.
Wenn du Koordinaten für ein umzusiedelndes Nest erhältst, muss dieses Nest zuvor ja erst einmal jemand aufgespürt haben. Wem obliegt diese Suche? Sind es die Planer, die auf dem Areal beispielsweise eine Autobahn bauen wollen? Oder machen sich Biologen auf die Suche?

    In der Regel sind das tatsächlich Mitarbeiter von Planungsbüros. Oftmals sind dies zum Teil dann auch ausgebildete Biologen. Auch wir werden manchmal mit der Erfassung von Ameisennestern in zukünftigen Baufeldern beauftragt. Problematisch ist es dann, wenn Bearbeiter die Kartierung vornehmen, die noch nicht wirklich viel über geschützte Ameisenarten wissen. Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass Waldameisen nur im Wald vorkommen. Man kann sie auch in Staudenfluren und auf Wiesen finden. Diese Bereiche werden dann meist nicht mit untersucht. Wenn wir dann zur Umsiedlung anrücken, entdecken wir oftmals weitere Nester, die dann noch zusätzlich umgesiedelt werden müssen.

Wie mir scheint, müsste der Gesetzgeber in diesem Punkt noch Klarheit, also für alle verbindliche Richtlinien schaffen. Ist darüber schon einmal nachgedacht worden?

    Die Gesetzeslage ist da klar, nur wie so oft hapert es bei der Umsetzung. Meiner Meinung nach wäre es wichtig, dass alle Umweltplaner regelmäßig Fortbildungen absolvieren müssen und auf diesem Gebiet weitergebildet werden. Das betrifft ja generell nicht nur die Ameisen, sondern auch andere Artengruppen. Die Natur ist eben auch nicht wie im Lehrbuch. Da steht zum Beispiel nicht, dass Waldameisen auch in Bienenhäusern, auf Grasdächern oder in Kompostern leben. Im Studium erhält man generell nur ein oberflächliches, theoretisches Wissen.

Ja, leider ist das auch in anderen Bereichen so und darüber könnten wir noch lange diskutieren. Aber zurück zu den Ameisen. Die männlichen Ameisen haben ja nun einmal das Pech, dass sie nur beim Hochzeitsflug die Königinnen begatten dürfen und danach sterben. Wie kann ich mir das vorstellen? Sterben sie unmittelbar, nachdem sie ihren Samen an eine oder mehrere Königinnen abgegeben haben? Vor allem, woran sterben sie eigentlich? Was führt zu ihrem Tod? Sollte sie der Begattungsakt dermaßen mitgenommen haben, dass sie an Erschöpfung sterben?

    Die Männchen sterben nicht unmittelbar nach der Begattung der Königin. Sie können noch einige Tage überleben, fallen aber auch sehr oft schnell Nahrungsfeinden wie Vögeln und Eidechsen zum Opfer. Die Begattung hat die Kräfte der Männchen aufgezehrt, und da Männchen nicht mehr im Nest aufgenommen werden und auf sich allein gestellt sind, können sie nicht überleben. Sie sterben an Erschöpfung, auch, weil sie sich selbst nicht ernähren können. Das gilt übrigens auch für eine einzelne Arbeiterin: Allein kann sie nicht überleben und stirbt ohne ihr Volk.

In deinem Buch ist von einer Spermathek zu lesen, einer Art Samenbank. Was mich daran gewundert hat ist der Umstand, dass die Spermien darin jahrelang aufbewahrt werden können, und das ohne Funktionsverlust. Wie ist das zu erklären? Von der Möglichkeit des Einfrierens einmal abgesehen, überleben Spermien eines Mannes nur wenige Tage, abhängig von verschiedenen Faktoren. Kennt man eine Substanz, anders kann ich es nicht ausdrücken, die Spermien über Jahre ernähren kann und damit haltbar macht?

    Dass menschliche Spermien absterben, hat meines Wissens nach damit zu tun, dass jede Zelle Energie benötigt und die zelleigene Energie der menschlichen Spermien irgendwann aufgebraucht ist. Bei den Ameisen ist das anders. An der Spermathek (Receptaculum seminis) im Körper der begatteten Königin befindet sich eine Drüse, die ein Sekret für die Ernährung der Samenzellen produziert. Die Samenzellen werden also mit Nährstoffen versorgt und können fünfundzwanzig Jahre funktionstüchtig im Körper der Königin gelagert werden. Wie du schon sagst, können beim menschlichen Samen die Stoffwechselvorgänge durch Einfrieren angehalten werden. Bei den Ameisen ist das nicht nötig, weil sie mit einem Drüsensekret ernährt werden. Toll oder? Die Natur ist so vielgestaltig und kreativ. Ich staune auch immer wieder!

Ja, was die Natur kann, ist schon ein Wunder. Immerhin ist es dem Menschen bis heute nicht gelungen, so ein Sekret herzustellen.
Erfreulicherweise gibt es in Deutschland ein Gesetz zum Schutz der Ameisen, so dass immer dann, wenn Ameisennester durch eine Bebauung zerstört würden, ein Umsiedler – wie du es bist – beauftragt wird. Doch obwohl dieses Gesetz existiert, gibt es offensichtlich Ausnahmegenehmigungen beziehungsweise eine Befreiung, die dann die Zerstörung des Nestes legalisiert. In diesem Zusammenhang würde mich interessieren: Wer entscheidet darüber?

    Die Genehmigungen und Befreiungen werden von den jeweils zuständigen Behörden ausgestellt. Je nachdem, um was für ein Vorhaben es sich handelt und welche Behörde das Verfahren führt, sind das die unteren Behörden oder die obere Behörde. Also ganz konkret: handelt es sich um „große“ Maßnahmen, bei denen die genehmigende Behörde zum Beispiel das jeweilig zuständige Landesamt für Bergbau, Infrastruktur, Bauen oder ähnliches ist, ist die zugeordnete Naturschutzbehörde die obere Naturschutzbehörde, also das Landesamt für Umwelt (dieses heißt in jedem Bundesland übrigens anders). Handelt es sich um einen Gewerbepark, der erweitert oder errichtet werden soll, oder um ein Einfamilienhaus, ist die Baubehörde des Landkreises oder der jeweiligen kreisfreien Stadt dafür zuständig und damit die zugeordnete untere Naturschutzbehörde.

Das klingt etwas kompliziert. Würde man die Zuständigkeiten vereinfachen, käme euch das sicher auch entgegen.
Bis zum Jahr 2017 hat es offensichtlich einen eklatanten Fachkräftemangel in dieser Branche gegeben. Nachdem ein Fernsehteam deine Arbeit im Juli 2017 gefilmt hat, waren viele Radio- und Fernsehsender an der Dokumentation deiner Arbeit interessiert, wie du in deinem Buch ausführst. Hat deine Einwilligung zum Filmen tatsächlich dazu geführt, dass es mittlerweile mehr ausgebildete Ameisenumsiedler/innen gibt?

    Wie das in anderen Teilen von Deutschland ist, weiß ich nicht. Ich habe inzwischen fünf junge Ameisenumsiedler ausgebildet. Generell scheint das Interesse an unserer Tätigkeit gewachsen zu sein.

Das ist ja mal eine positive Entwicklung, mit der du auch gleich meine nächste Frage beantwortet hast. Offensichtlich ist da kein Studium vorgeschrieben.

    Die Ausbildung zum Ameisenheger bzw. –umsiedler kann jeder machen. Es gibt unter uns zum Beispiel nicht nur Biologen und Forstwirte, sondern auch Informatiker, Bäcker, Planer usw. Wichtige Voraussetzungen sind Freude an der Arbeit in und mit der Natur, eine gewisse körperliche Fitness und die Fähigkeit und Bereitschaft, sich selbst immer wieder weiter entwickeln zu wollen. Denn jedes Ameisennest ist anders und neu und spannend. Immer muss ich mich auf eine neue Situation, neue Menschen und neue Herausforderungen beim Umsiedeln einlassen und diese bewältigen. Das macht sehr viel Spaß. Ach ja, es wäre gut, wenn man Frühaufsteher ist, denn wir beginnen eine Umsiedlung immer bei Sonnenaufgang.

Warum die Umsiedlungen immer bei Sonnenaufgang stattfinden müssen, hast du in deinem Buch deutlich gemacht.
Wenn du die Frage gestattest, würde mich erstens interessieren, wer den Einsatz bezahlt. Vermutlich der Auftraggeber, also der Unternehmer oder die Gemeinde, der auf dem Grundstück bauen möchte. Und zweitens, wie bei einem solchen Einsatz abgerechnet wird. Denn wie ich deinen Ausführungen entnehmen konnte, kannst du im Voraus nicht im Geringsten den Arbeitsaufwand abschätzen. Damit du nicht von den Kosten überrollt wirst, müsste man dich doch, wie deine Mitstreiter, nach tatsächlich geleisteten Stunden bezahlen, oder?

    Also, die Umsiedlungen bei Privatpersonen übernehme ich komplett ehrenamtlich. Bei dienstlichen Umsiedlungen erstelle ich vorher ein Angebot. Da ist es gut, wenn ich die Nester zuvor gesehen oder zumindest ein Foto davon zugeschickt bekommen habe, um den Aufwand abschätzen zu können. Aber es ist eben immer nur eine Schätzung. Schon sehr oft wurde ich überrascht! Ich kalkuliere also die erwartete Arbeitszeit inklusive Hin- und Rückfahrt. Da wir ja nicht nur einmal dorthin fahren, fallen besonders bei Nestern, die weiter weg liegen, doch einige Kosten an. Für die Umsiedlung setze ich die Zeit an, die ich mit meiner großen Erfahrung schätze. Die meisten Auftraggeber möchten nämlich vorher wissen, wieviel es kostet und vereinbaren einen Festpreis. Es kann später so sein, dass wir mehr oder weniger Zeit benötigen. Das ist dann eben so. Das nivelliert sich über mehrere Nester aus. Es gab Ameisennester, da haben wir € 1000,– veranschlagt und waren schneller fertig als gedacht. Und es gab welche, da dachten wir, der Aufwand sei mit € 500,– bezahlt und am Ende hatten wir einen Arbeitsaufwand, der mit der vierfachen Summe noch nicht bezahlt gewesen wäre.
    Jedes Nest ist eben anders und auch anders weit entfernt von uns, eben neu und spannend! Und manchmal findet man auch einen kleinen Schatz im Nest wie zum Beispiel achtzig Jahre alte, noch volle Bierflaschen!

In einer Sendung von Radio Bremen hast du auf die Frage, wie am besten bei einer Besiedlung von Ameisen in der Wohnung vorgegangen werden soll, mit Pfeffer, Zimt oder Teebaumöl geantwortet. Den meisten Menschen sind wahrscheinlich die Ameisenköder als probates Mittel bekannt, die den Tod der Königin zur Folge haben und damit den Untergang des ganzen Volkes. Wenn die Tiere aber, zumindest bei uns in Deutschland, geschützt sind, dann frage ich mich: Warum gibt es diese Mittel überhaupt noch zu kaufen?

    Es sind nicht alle Ameisenarten in Deutschland geschützt, sondern eigentlich nur die Waldameisen der Gattung Formica. Das kann in der Anlage 1 der Bundesartenschutzverordnung nachgeschlagen werden. Nur geschützte Arten genießen den rechtlichen Schutz und dürfen nicht getötet oder sonst wie gestört werden. Die Ameisen, die bei den meisten Menschen im Garten oder im Haus stören, sind nicht geschützt. Deshalb können sie auch bekämpft werden, ohne rechtlich in Konflikt zu geraten. Für mich persönlich ist jedes Leben wertvoll, und deshalb kommt das Töten von Tieren nicht in Frage! Ich vertreibe die Ameisen lieber – zum Beispiel eben mit Zimt.

Ich habe dir ganz herzlich für die Beantwortung der Fragen zu danken und kann dir und deiner Unternehmung für die Zukunft nur alles Gute wünschen!

    Dafür bedanke ich mich von Herzen!

Die fabelhafte Welt der Ameisen von Christina Grätz und Manuela Kupfer

Die fabelhafte Welt der Ameisen
Gütersloher Verlagshaus 2019
Hardcover mit Schutzumschlag
288 Seiten
ISBN 978-3-579-08728-3

Bildquelle: Gütersloher Verlagshaus
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