Nach seinem Debütwerk „Der Bastard von Tolosa“ entführt Ulf Schiewe seine Leser mit „Die Comtessa“ erneut ins Südfrankreich des Hochmittelalters. Ermenessa ist die Witwe des Vizegrafen Aimeric II. von Narbona und Stiefmutter von Aimerics fünfzehnjähriger Tochter Ermengarda, die wiederum die Erbin des Grafen ist. Die intrigante Ermenessa trifft ein Abkommen mit dem einflussreichen Grafen von Tolouse und will ihn mit Ermengarda verheiraten. Das Mädchen aber widersetzt sich den Plänen und flieht kurz vor der Hochzeit. Prachtvolle Zeltpagoden, Buffet und Gäste warten vergebens. Unterstützung erhält sie dabei von den beiden Edelmännern Felipe und Arnault, die beide in sie verliebt sind. Für die Freunde beginnt eine abenteuerliche Flucht durch die Gegend des Languedoc – immer auf der Hut vor den Verfolgern und gleichzeitig für Felipe und Arnault immer in der Hoffnung, das Herz von Ermengarda zu gewinnen.
Der Roman ist keine eigentliche Fortsetzung, knüpft aber an die Geschehnisse in Ulf Schiewes Debütwerk „Der Bastard von Tolosa“ an. Wie bereits im Vorgänger gelingt es dem Autor hier erneut, das historische Frankreich, diesmal in der Mitte des 12. Jahrhunderts, zum Leben zu erwecken. Es ist eine turbulente Zeit, in der Narbona als strategisch wichtige Handelsstadt erblüht und in der es undenkbar ist, dass eine junge Frau wie Ermengarda das mächtige Erbe des Vaters antritt – gleichzeitig ist es normal, dass eine Fünfzehnjährige aus politischem Kalkül verheiratet wird und kein Mitspracherecht bei der Wahl ihres Ehegatten zugestanden bekommt. Mit Ermengarda präsentiert der Autor eine charmante Protagonistin, die sich dem Zeitgeist entzieht und ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt.
Der Roman zieht seine Spannung aus zwei Aspekten: Zum einen fragt sich der Leser, ob den Flüchtigen das Entkommen vor den Häschern gelingt und alles für sie ein gutes Ende nimmt und andererseits, wer der beiden jungen Männer die Liebe der Angebeteten für sich gewinnt. Das emotionale Geflecht aus den beiden Getreuen und der liebenswerten jungen Frau bietet Potenzial für allerlei schmalzige Szenen, doch glücklicherweise hält sich der Autor hierbei zurück. Stattdessen fiebert der Leser mit dem Schicksal der drei Flüchtigen, die ihm rasch ans Herz wachsen. Sehr reizvoll ist zudem die Figur des Grafen von Toulouse. Begegnet man ihm anfangs nur mit Abscheu, wird sein Charakter im weiteren Verlauf etwas näher beleuchtet und erhält weitere Facetten, die den Eindruck der Schwarz-Weiß-Malerei verhindern.
Das Flair des dramatischen Hochmittelalters wird überzeugend wiedergegeben. Der Leser taucht ein in die Geschicke des Hochadels, des Bürgertums und der Landbevölkerung, verfolgt Kämpfe und Intrigen, politische Bündnisse und wechselnde Machtverhältnisse. Die beigefügte Karte verschafft den nötigen Überblick über die Ortschaften und das Personenregister klärt darüber auf, wer der handelnden Figuren fiktiv ist und wen es wirklich gegeben hat, wie beispielsweise den populären Minnesänger Peire Rohier. Ein bisschen Konzentration ist dabei vonnöten, vor allem auf den ersten hundert Seiten, da sehr viele Figuren eingeführt werden und sich die Namen einiger Personen stark ähneln. An manchen Stellen agiert die junge Ermengarda vielleicht einen Hauch zu modern angesichts der Zeitumstände, aber ihr Verhalten wird nie unglaubwürdig. Ulf Schiewe ist ein farbenprächtiger Historienroman gelungen, der ein authentisches und spannendes Mittelalterporträt in einer bewegten Epoche zeigt.