Der Markisenmann von Jan Weiler

Der MarkisenmannDie mittlerweile zweiunddreißigjährige Kim war zweieinhalb Jahre alt, als sich die Wege ihrer Mutter Susi und die ihres Vaters Ronald Papen trennten. Fortan lebte sie mit ihrem Stiefvater Heiko Mikulla, der ihre Mutter heiratete, und dem sechs Jahre jüngeren Bruder Geoffrey, der zu ihrem Leidwesen immer im Mittelpunkt stand. Doch dann geschah ein schreckliches Unglück, das ihr Leben für immer verändern sollte: Ihr Bruder erlitt im Frühjahr 2005 schwerste Verbrennungen und deswegen wurde Kim sechs Wochen in einer Psychiatrie behandelt sowie von ihren Eltern für die Dauer der Sommerferien zu ihrem leiblichen Vater nach Duisburg geschickt.

Kim weiß noch ganz genau, wie abgeschoben sie sich fühlte, zumal ihre Familie ohne sie in den Urlaub geflogen ist, und wie enttäuschend das erste Zusammentreffen mit ihrem leiblichen Vater auf dem Bahnhof war. Ronald Papen war ihr lediglich von einem undeutlichen Foto bekannt, von ihrer Mutter hat sie nichts über ihn erfahren, deshalb war er für sie ein nach dem Foto zu urteilender „Unscharfer“, aber dank ihrer Fantasie hatte sie eine Vorstellung von ihm. Doch die Realität ist ernüchternd: Seine äußere Erscheinung ist eine augenblickliche Enttäuschung und die nächste folgt sogleich mit der Ankündigung, dass es nicht in den Urlaub, sondern nach Hause geht. Der nächste Schock kommt für das verwöhnte Mädchen, weil ihr Zuhause für die nächsten sechs Wochen eine Lagerhalle ist und ihr Zimmer nicht einmal ein Fenster hat. Beim Inspizieren der Umgebung trifft sie auf Alik, der dort einen Ferienjob hat.

In einem mit über zwanzig Seiten ungewöhnlich langen Prolog erzählt Kim in dem Roman „Der Markisenmann“ von Jan Weiler die Vorgeschichte, die mit einem Unglück endet. Im Folgenden berichtet sie vom Zusammentreffen mit ihrem Vater, der in einer ihr völlig unbekannten Welt lebt. Zunächst schämt sie sich, weil er „Klinken putzen“ geht, fährt mit ihm durchs Ruhrgebiet, wo er die von ihm hergestellten Markisen verkaufen will. Ihre Wege führen sie unter anderem nach Gelsenkirchen-Buer in die Siedlung Spinnstuhl nach Hassel, die mitnichten der Fantasie des Autors entsprungen ist, sondern tatsächlich existiert und für Lokalkolorit sorgt. Allerdings hätte weniger Raum für die Darstellung der vielfältigen Möglichkeiten, Kunden zu einem Kauf zu überreden, gereicht.

Jan Weiler lässt es in dem Plot nicht an Kritik fehlen. So ist zu lesen, dass Teleshopping-Kanäle mit den Möglichkeiten zum Ratenkauf die Kunden in finanzielle Bedrängnis bringen können, und der Konsumwahn unserer Wegwerfgesellschaft könnte in Dauerstress ausarten. So lernt Kim bei ihrem Vater die „Verführungen der Konsumwelt“ kennen und wird von ihm über die „Fänge der Supermarkt-Psychologie“ anhand einiger Beispiele wie die Linksführung des Kunden oder die Positionierung der Ware belehrt. Je weiter die Ausführungen der Ich-Erzählerin reichen, je mehr nähern sie sich auch dem Kern, nämlich der Frage, was ihren Vater Ronald Papen und ihre Mutter Susi einst zusammenführte, was ihn und Kims Stiefvater Heiko Mikulla verband und was zur Trennung ihrer leiblichen Eltern geführt hat. Denn diese Verwicklungen, so wird im weiteren Verlauf deutlich, haben ihren Ursprung in der ehemaligen DDR. Wie Kim von Anfang an vermutet hat, vermied ihr Vater nicht ohne Grund, ihr von der Zeit ihrer Geburt zu erzählen. Das wiederum ist verknüpft mit der sinnlos erscheinenden Tätigkeit von Ronald Papen, mehr oder weniger unbrauchbare Markisen an den Mann zu bringen. Der Roman „Der Markisenmann“ ist eine von Jan Weiler fantastisch aufgearbeitete und äußerst berührende Geschichte, die von Anfang an das Interesse des Lesers auf die weitere Entwicklung weckt und aus der die Erkenntnis gezogen werden kann, dass vieles im Leben einfacher ist, wenn man miteinander redet.

Der Markisenmann von Jan Weiler

Der Markisenmann
Heyne Verlag 2022
Hardcover
336 Seiten
ISBN 978-3-453-27377-1

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Bildquelle: Heyne Verlag


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