Im Alter von sechzehn Jahren sitzt die zutiefst verstörte Ottilie im Jahr 1944 neben ihrem im Bett liegenden erschlagenen Vater Walter Rabe. Sie hat keine Erinnerung daran, warum Blut an ihrer Hand ist. Von Kriminalrat Werner Beltheim wird verlangt, dass er den Mord an dem Gestapo-Offizier und Mitarbeiter im Sicherheitsdienst schnellstens aufklärt. Da Ottilie nichts zum Tathergang auszusagen weiß, kann Rabe, der von ihrer Schuld nicht überzeugt ist, nicht einmal erwirken, dass sie vor ein milderes Jugendgericht gestellt wird. Stattdessen wird die Jugendliche zu einer zehnjährigen Haft in der Uckermark verurteilt. Für den nicht linientreuen Kriminalrat wird klar, dass der wirklich Schuldige geschützt wird und für ihn tauchen während seiner Ermittlungsarbeit immer neue Fragen auf, wobei er aufpassen muss, nicht selbst in die Fänge der Gestapo zu gelangen.
Im Jahr 2022 beschließt die mittlerweile vierundneunzigjährige Ottilie, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Sie erwirbt das Landgut Torchau in der Uckermark, in dem sie einst ihre Haft verbüßen musste und in das sie ihre Verwandtschaft zwecks Klärung der Erbfrage einladen will. Ihre Nichte Nairi bittet sie als erste um ein Treffen, bevor ein Bauleiter beauftragt wird, die Gästezimmer herzurichten. Nach und nach treffen die Familienmitglieder auf Torchau ein, denen die alte Dame einen Fachmann angekündigt, der über ihre persönlichen Dinge berichten soll. Wie Ottilie weiter ausführt, wird der im Ruhestand befindliche Kriminalbeamte und heutige Privatermittler Gernot Beyer endlich ein Geheimnis lüften, indem er sich mit ihrer Vergangenheit befasst haben wird, die allerdings alle Versammelten angehen dürfte. Ihr Lebensgefährte Ebbi, Dr. Eberhard Luchtmann, steht ihr dabei als Rechtsanwalt zur Seite.
Arne Jensen erzählt das Geschehen der zunächst minderjährigen und später gealterten Ottilie in seinem Roman Etwas verborgen Schönes* im Wechsel. Zu Beginn nimmt er Ottilies Verhaftung zwar schon vorweg, rollt jedoch alle Details bis zu diesem Punkt im weiteren Verlauf in der Form auf, als würde der Privatermittler die achtzig Jahre zurückliegenden Ereignisse quasi den Familienmitgliedern berichten. So knüpft jeder „Zeitsprung“ immer an der Stelle der letzten Begebenheit an. Während die neuzeitlichen Vorgänge von Nairi in der Ich-Form berichtet werden, sind die weit zurückliegenden Vorfälle im Erzählstil geschrieben.
Kriminalrat Werner Beltheim wird im Plot als scharfsinniger Beobachter beschrieben, der sich über die Maßen in den Fall kniet, der ihm selbst als pensionierter Beamter noch nicht loslässt. Im Verlauf der vielen Stunden, in denen die Verwandtschaft zunächst auf dem Landgut, später auch in der Wohnung von Ottilie in Berlin zusammentrifft, erkennt jeder einzelne, dass ihn die Vergangenheit der alten Dame durchaus auch selbst betrifft. So gibt es nicht nur für Ottilie überraschende Erkenntnisse, sondern auch für alle Versammelten.
Arne Jensen hat verdeutlich, dass zur damaligen Zeit niemand sicher vor Spitzeln sein konnte, es herrschte ein „Klima der Angst“. Mit herrlichen Umschreibungen wie „moralisch flexibel“ sein, wenn jemand Unschuldige ans Messer liefert, um seinen eigenen Kopf zu retten, fesselt der begnadete Autor seine Leser an den Plot. Seine Protagonisten ergehen sich in wilden Spekulationen, es werden Beschuldigungen vorgetragen, Unverständnis und Entsetzen zur Sprache gebracht, aber auch Zustimmung, Verständnis und Einsicht gezeigt. Der Roman Etwas verborgen Schönes* überzeugt mit herrlich sarkastischen wie zynistischen Einlagen und angenehmem Schreibstil, kurzum, er ist ein Juwel.
Etwas verborgen Schönes von Arne Jensen
Heyne Verlag 2023
Klappenbroschur
576 Seiten
ISBN 978-3-453-42653-5