
Das historische Drama als Ausgangspunkt
Im Juni 1924 wollen George Mallory und Andrew Irvine den Mount Everest bezwingen – doch sie kehren nie zurück. Bis heute konnte nicht geklärt werden, ob die beiden Bergsteiger den Gipfel erreicht haben und damit den als Erstbesteigern geltenden Tenzing Norgay und Edmund Hillary den Ruhm streitig machen könnten.
In dem Roman Der Berg* von Dan Simmons bildet dieses Drama den Ausgangspunkt der Handlung. Der aus Boston stammende Jacob Perry, der Chamonix-Führer Jean-Claude Clairoux und Richard Davis Deacon, den alle nur „den Diakon“ nennen, erfahren auf dem Gipfel des Matterhorns aus einer Zeitung vom Unglück am Mount Everest. Im Kopf des Diakons reift längst der Plan, ebenfalls auf den höchsten Berg der Erde zu steigen. Zur Vorbereitung testet er seine beiden Begleiter auf der gefährlichsten Abstiegsroute.
Eine verschwundene Expedition und ein riskanter Auftrag
Bei einem Besuch bei Lady Bromley erfahren die drei Männer, dass Lord Percival Bromley und Kurt Meyer mit einigem Abstand Mallory und Irvine zum Gipfel nachgestiegen und ebenfalls verschwunden sind. Der vermeintlich einzige Zeuge, der Nazi Bruno Sigl, behauptet, Bromley und Meyer seien mit ihren Sherpas von einer Lawine in den Tod gerissen worden. Doch Überlebende der gescheiterten Expedition berichten etwas anderes.
Lady Bromley sichert schließlich dem Diakon und seinen Seilgefährten die Finanzierung der Bergung ihres Sohnes zu – allerdings unter der Bedingung, dass ein Verwandter, Reggie, und nicht der Diakon die Verantwortung trägt.
Überraschungen und Gefahren am Himalaya
Die Planungen und Vorbereitungen für die im nächsten Jahr startende Expedition laufen auf Hochtouren. In Darjeeling erleben die drei eine Überraschung: Reggie ist eine Frau, die zudem Dr. Pasang als Begleitung fordert.
Trotz mitgeführter Sauerstoffflaschen kämpfen die Bergsteiger mit Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Erbrechen und Höhenhusten. Sie müssen Höhenlungen- und Höhenhirnödeme sowie Embolien fürchten und leiden bei Ausfall eines Kochers zum Auftauen von Schnee unter Dehydrierung. Zu allem Überfluss ereignet sich ein tödlicher Unfall, niedergemetzelte Sherpas sind zu beklagen, und die erschöpften Männer werden von einer mörderischen Bande verfolgt.
Fiktion und Fakten: Ein Roman mit dokumentarischem Anspruch
Nach der Einleitung mag der Leser zunächst enttäuscht sein, nicht eine der erwähnten handgeschriebenen Ausgaben des Buches in Händen zu halten. Doch wird schnell klar, dass die Einleitung bereits Bestandteil des Romans Der Berg* ist – ein solches Buch existiert nicht.
Über viele Seiten geht der Autor sehr detailliert auf Kleidungsstücke und Stoffe ein, die speziell für das Bergwandern in großen Höhen verwendet werden, etwa Eiderdaunen oder Jacken, die nach dem Polarforscher Ernest Shackleton benannt sind. Tatsächlich nannten Träger der damaligen Zeit den von den Pionieren Geoffrey Bruce und George Ingle Finch empfohlenen mitgeführten Sauerstoff „englische Luft“. Nicht selten führten gerissene Hanfseile zum Absturz, bevor synthetische Fasern die Seile sicherer machten.
Atemberaubende Schilderungen und lehrreiche Details
Die steten Auf- und Abstiege sind von Dan Simmons äußerst realistisch und atemberaubend geschildert. Mit teilweise trockenem Humor vermischt er gekonnt Realität und Fiktion. Ein Absturz einer kompletten Seilschaft kann auch heute nicht ausgeschlossen werden und ist oft nur durch eine Durchtrennung des Seils zu verhindern.
Nicht bergerfahrene Leser werden sich wundern, dass ein Abstieg gefährlicher als ein Aufstieg ist. Sie lernen, dass der Sauerstoffgehalt mit zunehmender Höhe nicht abnimmt, sondern lediglich der Luftdruck sinkt. Nach der Lektüre weiß auch jeder den Vorteil von Bergschuhen mit fester Sohle zu schätzen, da dadurch ein stabiler Stand auf winzigen Vorsprüngen mit der Schuhspitze möglich wird.
Historische Tiefe und politische Spitzen
Für sein Werk hat der Autor nicht nur umfangreiche Recherchen zum Klettern im Hochgebirge betrieben, sondern auch auf medizinischem Gebiet. Die steigende Spannung lässt den Leser nicht los – selbst, wenn er im Warmen sitzt, fröstelt es ihn.
Zum Ende des Romans baut Dan Simmons zunehmend historische Elemente ein und wird auch politisch. Rudolf Hess wird im Text mit einem Geistesgestörten verglichen, Adolf Hitler mit einem „Hampelmann mit Schnurrbart“. Der Berg* ist ein gewaltiger Roman, der auch nach vielen Jahren nicht in Vergessenheit gerät.
Der Berg von Dan Simmons

Übersetzung von Friedrich Mader
Heyne Verlag 2014
Hardcover mit Schutzumschlag
768 Seiten
ISBN 978-3-453-26896-8