Ein Leben unter moralischer Anklage
Der Aufbruch* ist der Auftakt zur Eismeer-Trilogie von Ingeborg Arvola. Die Handlung des historischen Romans spielt im äußersten Norden Norwegens, genauer gesagt in der Region Finnmark, und beginnt im Jahr 1859 zunächst in Nordfinnland. Brita Caisa muss wegen ihrer beiden unehelichen Söhne eine Kirchenstrafe über sich ergehen lassen. An vier Sonntagen wird sie vom Pfarrer wegen ihres „unsittlichen Lebenswandels“ vor der versammelten Gemeinde angeprangert.
Ihr erster Sohn, der zwölfjährige Aleksi, stammt aus einer Liebesbeziehung mit einem verheirateten Mann. Der Vater des dreijährigen Heikki ist bereits verstorben. Brita muss deshalb zurück in das Haus ihrer Eltern ziehen. Doch sie möchte nicht, dass ihre Söhne mit ihrem Vater als männlichem Vorbild aufwachsen, da sie befürchtet, sie könnten sonst zu Trunkenbolden und Taugenichtsen werden. So beschließt sie, ihren Heimatort Sodankylä zu verlassen und an die Eismeerküste nach Pykeijä zu ziehen, wo bereits ihr Bruder Pehr Pudas mit seiner Familie lebt.
Hoffnung auf ein neues Leben
In der Hoffnung, in Pykeijä einen anständigen Mann zu heiraten – ein Fischer mit Boot, Haus und Land, der sein Einkommen nicht versäuft – schließt sich Brita einem Tross an, der nach Ruija zieht. Dort soll das Meer von Fischen nur so brodeln, man könne das ganze Jahr über fette Fische fangen und müsse nicht hungern.
Auf der langen, mühseligen Reise findet Brita eine vorläufige Anstellung auf dem Hof von Askan-Mikko und seiner Frau Gretha. Obwohl Mikko verheiratet ist, fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Während des Frühlingsfischens in Pykeijä entwickelt sich zwischen den beiden eine Liebesbeziehung. Mikko verlässt schließlich seine Frau Gretha, die ihn daraufhin wegen Ehebruchs beim Lensmann anzeigt.
Gesellschaftliche Zwänge und weibliche Selbstbestimmung
Die Handlung des Romans spiegelt die Lebensweise norwegischer Fischer und Bauern im 19. Jahrhundert wider. Die Autorin lässt den Leser in eine Welt eintauchen, die von einer kargen, mystischen Landschaft geprägt ist. Religiöse Strenge und die raue Lebensrealität werden eindringlich dargestellt.
Ingeborg Arvola verwebt in ihrem Roman auch Teile ihrer eigenen Familiengeschichte: Die Protagonistin Brita Caisa basiert auf einer tatsächlichen Vorfahrin der Autorin. Brita ist eine starke Frau mit heilender Gabe, die entschlossen ihren eigenen Weg geht. Ihre Begegnung mit Mikko bringt Hoffnung, aber auch neue Konflikte. Die Liebe zwischen ihnen wird durch gesellschaftliche Zwänge und Gerüchte erschüttert. Die Anklage wegen Ehebruchs und die drohende Gefängnisstrafe zeigen die brutale Realität für Frauen, die sich nicht den Normen fügen wollten.
Sprachliche Authentizität und literarische Wirkung
Die Übersetzerin Katharina Martl hat an einigen Stellen Sätze aus dem Finnischen im Original belassen – was der Handlung zwar mehr Authentizität verleiht, beim Leser jedoch für Unverständnis sorgen kann, da sich der Sinn der Worte nicht immer aus dem Kontext erschließt.
Zweifellos ist Der Aufbruch* ein anspruchsvolles literarisches Werk, das in klarer Sprache und mit poetischen Bildern verfasst wurde. Doch bereits auf den ersten Seiten wirft die Protagonistin Fragen auf: „Über welche Seiten blättert ihr hinweg? Wer wendet sich ab? Wendest du dich ab?“ – Fragen, die sich auch dem Leser stellen, denn im weiteren Verlauf gelingt es der Autorin nicht durchgehend, die Spannung zu halten. Der Roman empfiehlt sich daher vor allem für Leserinnen und Leser, die sich für die Geschichte und die Mythen Norwegens begeistern können.
Der Aufbruch von Ingeborg Arvola
Übersetzung von Katharina Martl
btb Verlag 2025
Hardcover mit Schutzumschlag
416 Seiten
ISBN 978-3-442-76268-2