Die Geschichte meiner Flucht!
Wie Jad Turjman in seiner lesenswerten Autobiographie Wenn der Jasmin auswandert* ausführt, galt Syrien noch im Jahr 2010 als eines der sichersten Länder der Welt. Der Autor, der in Damaskus geboren und aufgewachsen ist, hat nach einem Studium der englischsprachigen Literatur im Magistrat gearbeitet und dort durch den Krieg obdachlos gewordenen Menschen geholfen. Als er am 5. November 2014 seinen Einberufungsbefehl in Händen hält, will er weder für die korrupte Regierung, noch für die Gegner kämpfen. Um dem sicheren Tod zu entgehen, rät ihm sein Vater, das Land zu verlassen. Jad muss sich nicht nur vom Jasmin verabschieden, der überall in der Altstadt blüht, sondern auch von seiner Freundin Sarah.
Zwei Tage später vertraut sich Jad mit fünfundzwanzig Jahren notgedrungen einem Schlepper an, der fünftausend Euro fordert. Seine erste Station ist Izmir. Die weitere Route führt ihn über Rhodos nach Athen, und nach endlosem Warten soll ihn ein Flug nach Kopenhagen bringen. Doch mehrere gescheiterte Versuche mit gefälschten Pässen treiben ihn wiederholt in die Fänge der Polizei, so dass er beschließt, seine spektakuläre Flucht selbst in die Hand zu nehmen.
Jad schließt sich drei Männern an. Per Zug gelangen sie von Thessaloniki nach Mazedonien, wo sie allerdings wieder gezwungen sind, die Hilfe von Schleppern in Anspruch zu nehmen. Um in Skopje nicht wieder bei der Polizei zu landen, marschieren sie dreißig Kilometer zu Fuß, bei bitterer Kälte und Schnee. Entkräftet wollen sie aufgeben, als zum fünften Mal ein Schutzengel ihre Rettung ist. In Serbien angekommen, treffen Jad und seine Begleiter auf hilfsbereite Menschen, die noch eigene Erinnerungen an den Krieg haben. Von Budapest aus erreicht Jad endlich österreichischen Boden, doch seine Freude wird dadurch getrübt, dass nur ihm und einem Begleiter die Flucht gelungen ist. In Wien ist er am Ende seiner Reise angelangt, obwohl sein eigentliches Ziel Schweden war.
Jad Turjman beschreibt in seiner Autobiographie nicht nur seine Flucht aus Syrien, sondern erzählt von seinem Schulbesuch und dem Notensystem, seiner Büroarbeit und wie er seine Freundin Sarah kennengelernt hat. Zur Geschichte Syriens erinnert er an den israelischen Angriff im Juni 1967, der zum Verlust der Golanhöhen führte. Immer wieder rezitiert er arabische Sprüche und äußert sich kritisch über den türkischen Staatsmann Recep Erdoğan. Schrecklich sind seine Ausführungen zu einem Fall von Blutrache in Ägypten und zum traurigen Schicksal eines Zwillingspaares. Erst auf den letzten Seiten schreibt er von seiner Gefangennahme und Folter durch al-Nusra-Kämpfer im August 2013, bei deren Schilderung dem Leser der Atem stockt. Als einziger von fünf Gefangenen in einer Zelle konnte er dem Grauen entkommen. Im Gegensatz zu den körperlichen, sind die seelischen Wunden längst nicht verheilt.
Wie Jad Turjman zugibt, war seine Angst während der Flucht manchmal so groß, dass er befürchtete, sich „in die Hosen zu machen“. Mit zweiunddreißig Menschen in einem kleinen Schlauchboot auf dem Meer oder über Stunden mit zu vielen in einem Auto eingepfercht zu sein, ist schwer vorstellbar. Dass die Flucht ohne ein Smartphone nicht hätte gelingen können, wird erst durch die Lektüre der Autobiographie Wenn der Jasmin auswandert* verständlich, die der Autor in deutscher Sprache verfassen konnte, weil er den Aufenthalt im österreichischen Asylheim dazu genutzt hat, Deutsch zu lernen. Obwohl er mit zwei Koffern seine Flucht antrat, besaß er bei seiner Ankunft nur noch das, was er auf dem Leib trug. Aber er hat es geschafft und arbeitet seit 2015 in Salzburg. Nur auf das Wiedersehen mit Sarah muss er wohl noch lange warten.
Leider hat Jad Turjman nicht erwähnt, wie lange er insgesamt unterwegs war und ob er sich während der Zeit die Haare schneiden lassen oder er sich rasieren konnte. Denn im Gegensatz zu den Bildern vertriebener Flüchtlinge zum Ende des Zweiten Weltkrieges, die unterernährt und in Lumpen unterwegs waren, werden in den Nachrichten Flüchtlinge gezeigt, die nahezu gestylt die Grenze passieren. Dass Flüchtlinge nicht immer willkommen sind, ist sicherlich auch darin begründet, dass nicht alle so integrationswillig wie der Autor sind und bereit, eine neue Sprache zu erlernen. Mit seiner einfühlsamen und spannenden Autobiographie erzeugt der Autor zumindest Verständnis für Flüchtlinge, die wie Jad Turjman davon überzeugt sind: „Das ist nicht mein Krieg“.
Wenn der Jasmin auswandert von Jad Turjman
Residenz Verlag 2019
Hardcover mit Schutzumschlag
256 Seiten
ISBN 978-3-7017-3480-1