Die beachtenswerte, vierbändige Graphic-Novel aus Taiwan, deren einzelne Bände isoliert gelesen Unverständnis zurücklassen, was daher wenig Sinn macht, beschreibt zum einen das schicksalhafte Leben des unschuldig inhaftierten Tsai Kun-Lin, geht aber unweigerlich auch auf die politischen Verhältnisse in dem Land ein. Diese vielen Ereignisse und Begebenheiten konnten nicht in einem Buch untergebracht werden, so dass letztendlich vier, chronologisch aufeinander folgende Bände erschienen. Dieser letzte Band Tsai Kun-Lin – Was bleibt* knüpft übergangslos an seinen Vorgänger an, nachdem im Jahr 1969 zwei verheerende Taifune Tsai Kun-Lin und seiner Familie alles genommen hatten, was sie sich über Jahre aufgebaut hatten. Besonders litt er darunter, seine Verwandten und Freunde, die ihm Kredite gewährten, in die Insolvenz gezogen zu haben.
Im Jahr 1970 erhält er im Cathay-Konzern eine Anstellung als Dozent und kann endlich seinen Schuldenberg in Raten abtragen. Für Hara san soll er einen Auftritt dolmetschen, doch während der gemeinsamen Anreise erleidet dieser einen Schlaganfall. Sein Vortrag wird vom Band übertragen, doch der Dolmetscher Tsai Kun-Lin wird, wie befürchtet, erkannt und aufs Revier abgeführt, als seine Frau gerade ein zweites Kind zur Welt gebracht hat. Zum Glück stellen Freunde eine Kaution und Kun-Lin kommt frei. Im Jahr 1972 wird er zum Verkaufsleiter der Cathay-Werbeagentur befördert, wo er große Erfolge erzielt und wird ein Jahr später Sekretär des Leiters der Abteilung Lebensversicherung.
Nach dem Tod des Präsidenten Chiang Kai-shek im Jahr 1975 liest Kun-Lin in Taiwan verbotene Schriften über das Ziel, eine neue und eigenständige Nation zu gründen. Seine Sorgen gelten der Schutzmacht Amerika, die Taiwan links liegen lässt. Sein Chef möchte, dass er einen Verlag aufbaut, reicht jedoch seine Kündigung im Jahr 1979 ein, weil er Kontakte zur Bewegung einer illegalen Demonstration hatte, die von den Herausgebern der Zeitschrift „Formosa“ geführt wurde und viele Todesopfer forderte.
Im Jahr 1980 darf Kun-Lin nach Japan reisen und freut sich über das Erreichen eines Lizenzvertrages für eine Enzyklopädie. Nach achtunddreißig Jahren wird im Juli 1987 endlich der Ausnahmezustand aufgehoben, es gibt keine Presse- oder Parteiverbote mehr. Zum vierzigsten Jahrestag seines Schulabschlussjahrgangs schreibt er einen Beitrag, beginnend mit dem Tag, an dem seine Jugend starb. Es wird Zeit, seiner Tochter und seinem Sohn sein Leben im Gefängnis nicht länger zu verschweigen und fährt mit ihnen zur Insel Lü Dao, auf der er zehn Jahr gefangen gehalten wurde.
Studentenproteste lösen im März 1990 eine politische Wende aus. Während seiner Japanreise sah Kun-Lin die dortigen Büros mit Computern ausgestattet und kann nunmehr als Stellvertreter seinen Chef davon überzeugen, trotz hoher Kosten ein Firmennetzwerk zu errichten, da er im Internet die Zukunft auch seines Landes sieht. Mit drei ehemaligen Häftlingen, mit denen er für ein paar Stunden auf der Rückverschiffung aneinandergekettet war, reist er im Frühjahr 2006 zum Grab eines Mithäftlings, um diesem die letzte Ehre zu erweisen. Am 17. Mai 2018 hält Kun-Lin zur Eröffnung der Gedenkstätte für die Opfer des Weißen Terrors auf Lü Dao eine Rede und bis zu seinem Tod am 3. September 2023 mit dreiundneunzig Jahren hat er sich für Menschenrechte und die Demokratie stark gemacht.
Im April 2016 ist die Autorin Yu Pei-yun von der Universität Taitung zum ersten Mal Tsai Kun-Lin während seiner Rede bei der Eröffnung der Gedenkstätte begegnet. Mit ihm führt sie in der Folge unzählige Gespräche, in dem er von seinem Leben berichtet. Schließlich besucht sie ihn und seine Familie. Kun-Lin und seine Ehefrau Kimiko erzählen ihr von der einst von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Nonno“ für junge Frauen. Immer wieder gibt es in dem Buch Tsai Kun-Lin – Was bleibt*, das von Johannes Fiederling ins Deutsche übersetzt wurde, Zeitsprünge, in denen Kun-Lin als gealterter Mann neben der Autorin auftritt. Als er ihr von seinen Erinnerungen an den Formosa-Zwischenfall berichtet, wobei unter den vielen Toten auch Kinder zu beklagen waren, bricht er in Tränen aus, da die Zeit seine Wunden immer noch nicht heilen konnte.
Yu Pei-yun bekennt, dass die Generation ihrer Eltern nicht über den Krieg spricht, was uns Deutschen nur zu gut bekannt ist, wenn es um die Verschwiegenheit der älteren Generation über die Naziherrschaft geht. Sie selbst hätte zehn Jahre lang auf die Insel Lü Dao geblickt, von den Zuständen im ehemaligen Lager jedoch nichts gewusst. Für Zhou Jian-xin> müssen seine Illustrationen eine Herausforderung gewesen sein, denn für die Umsetzung der politischen Ereignisse wie die Lebensjahre des Protagonisten gebührt ihm ein hohes Lob. Bemerkenswert ist eine Aussage Kun-Lins, für den nämlich „nicht Revolution, sondern friedliche Reform“ der „einzig richtige Weg“ ist.
Tsai Kun-Lin – Was bleibt von Yu Pei-yun
Übersetzung von Johannes Fiederling
Baobab Books 2024
Klappenbroschur
168 Seiten
ISBN 978-3-907277-26-3