Splitterfasernackt von Lilly Lindner

SplitterfasernacktLilly Lindner verarbeitet in ihrem autobiographischen Werk mit dem provokanten und mehrdeutigen Titel „Splitterfasernackt“ ihre Erlebnisse als junges Mädchen, Heranwachsende und erwachsene Frau. Ihr Leben ist von Missbrauch und psychischen Problemen, die sich in Essstörungen entladen, und später von Prostitution geprägt. Das Buch ist nichts für schwache Gemüter.

Die Geschichte beginnt, als Lilly sechs Jahre alt ist und von einem Nachbarn sexuell missbraucht und vergewaltigt wird. Er entschädigt sein Opfer jeweils mit einer Tafel Schokolade, aber Lilly merkt doch schnell, dass an diesem Tauschhandel etwas mächtig falsch ist. Ihre Eltern sind keine Stütze, denn sie sind nicht besonders am Leben ihrer kleinen Tochter interessiert. Lilly ist der festen Meinung, dass man ihr ohnehin nicht geglaubt hätte, denn die Eltern mögen den freundlichen und unauffälligen Nachbarn. Lilly ist die einzige, die hinter die nette und allseits beliebte Maske des Nachbarn blicken darf und deren Leben dadurch zerstört wird.

Schnell bildet sich bei Lilly eine Essstörung aus, die ihr das Gefühl gibt, selbst über ihren Körper bestimmen zu können. Sie ist bald gefangen zwischen Hungern, Essen und Erbrechen, wobei sie sehr anschaulich ihre Gefühle und das Hin- und Hergerissensein beschreibt. Die Anorexie und die Bulimie werden so etwas wie ihre imaginären Freundinnen, mit denen sie ihr Leben teilt und bespricht. Die Essstörung bestimmt bald ihren kompletten Alltag und wirkt sich natürlich auch sehr negativ auf ihren Körper und ihren Gesundheitszustand aus. Als sie älter wird, beginnt sie, ihren Körper zu verkaufen und sich unter dem Decknamen Felia als Prostituierte ihr Geld zu verdienen. Lilly Lindner versucht dabei, eine Erklärung dafür abzugeben, warum gerade Vergewaltigungsopfer und Menschen, die unter sexuellem Missbrauch in der Kindheit zu leiden hatten, häufig im Milieu der Prostitution landen. Der Zusammenhang scheint jemandem, der das nicht erlebt hat paradox und widersinnig zu sein, aber Lilly hat es am eigenen Leibe erlebt und kann ihre Gedanken, Beweggründe und Taten daher sehr gut wiedergeben.

Das Buch ist hemmungslos, ehrlich, teilweise schwer verdaulich und traurig zugleich. Es ist oftmals schockierend, wie offen das Missbrauchsopfer über sich und ihre ganz intimen Gedanken und Gefühle schreibt. Man schwankt bei der Lektüre zwischen Mitleid und Entsetzen. Man fühlt aber auch immer wieder eine Art Bedürfnis, der kleinen Lilly zu helfen und möchte die Ungerechtigkeiten bekämpfen, von denen sie schreibt. Wenn Lilly Lindner ihre Magersucht und die damit einhergehenden Symptome schildert, kann es passieren, dass man als Leser verzweifelt wegen des Unverständnisses und des aufkommenden Bedürfnisses, etwas dagegen tun zu wollen. Schwer vorstellbar ist die Tatsache, dass eine junge Frau, die so mager und schwach ist, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann, dennoch als Prostituierte ihren Lebensunterhalt verdient und sogar bei der Kundschaft sehr beliebt ist. Wer einmal eine wirklich magersüchtige Person gesehen hat, der kann sich nur schwer vorstellen, dass sie dem Idealbild der meisten Freier entspricht.

Ihre krankhaften Selbstgespräche mit den imaginären Freundinnen Anorexie und Bulimie, die sie fast liebevoll als Ana und Mia bezeichnet, ziehen sich durch das gesamte Buch, wie auch durch ihr ganzes Leben und wiederholen sich in ähnlicher Weise immer und immer wieder. Nicht nur wegen diesen tiefen persönlichen Einblicken ist „Splitterfasernackt“ ein ergreifendes und sehr mitreißendes Werk.

Splitterfasernackt von Lilly Lindner

Splitterfasernackt
Droemer Verlag 2011
Klappenbroschur
400 Seiten
ISBN 978-3-426-22606-3

Bildquelle: Droemer Verlag


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