Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit von Gabriele Weingartner

Léon Saint Clairs Abschied von der UnendlichkeitNachdem der in Berlin von der Kriminalpolizei gesuchte Léon Saint Clair von seiner Freundin Konstanze Geld entwendet hat und in den „Untergrund verschwinden“ muss, hat es ihn nach Chur verschlagen, wo er im Hotel Schneeleopard unterkommt. Auf Léon, der eine Vorliebe für Kaschmirpullover hat, übt der Herrenausstatter Tomasz Wrobel eine „unerklärliche Anziehungskraft“ aus. Als er ihn zufällig in einem Restaurant trifft, freut er sich über die Zusage, bei Wrobel ein Praktikum machen zu dürfen. Allerdings muss er sich eine neue Bleibe suchen, da ihm die Suite im Hotel gekündigt wird.

Der Roman „Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit“ von Gabriele Weingartner ist die Fortsetzung von „Léon Saint Clairs zeitlose Unruhe“. Bereits auf den ersten Seiten wundert sich der Leser, dass der Ich-Erzähler, der sich einer ausgesprochen vornehmen Sprache bedient, schon vor fast einhundert Jahren in einem Hotel in Bangkok war. Bei dem Protagonisten, der auf dem Schloss seines Vaters aufgewachsen ist, handelt es sich um eine die Lebenserwartung um Jahre überschreitende Person, weil sie wie Joseph von Eichendorff Ende des 18. Jahrhunderts geboren wurde, wie an einer Stelle zu lesen ist. Erstaunlich sind deshalb die Aussagen, dass sich auf seinen „glatten Kinderwangen“ plötzlich ein Bart entwickelt und die obdachlose Fritzi mit seinen „gelben Entchen“ in seiner Badewanne spielt.

Léon kann sich der Anziehungskraft von Fritzi, die er aus seiner Zeit in Moskau kennt und offensichtlich wiedertrifft, nicht entziehen, da diese seiner ehemaligen Geliebten und später verhafteten Elsbeth ähnelt. Doch aus Liebe zu ihr wurde Léon, wie er selbst bekennt, zum Denunzianten. Immer noch plagt ihn sein Gewissen, seinen Freund und ehemaligen Lehrer Nikiforos wegen seiner Liebe zu Elsbeth an die Geheimpolizei verraten zu haben. Zu seinen Erinnerungen gehören unter anderem auch seine Sterbebegleitung Heidi sowie seine Freunde Löwy und Kiefer, wobei der letzte auch ein Verräter gewesen sein soll.

Wenn der Protagonist nicht gerade in ein Gespräch verwickelt ist, wobei der Leser darauf achten muss, ob es sich um Léon handelt oder den Herrenausstatter Wrobel, der ebenfalls in der Ich-Version berichtet, ergeht er sich in ausschmückenden Erinnerungen, die kreuz und quere Streifzüge zu den unterschiedlichsten Themen sind: Angefangen bei einer hochwertigen Norfolk-Jacke über Erklärungen zu Stoffen und Nähtechniken, weiter über den Bernina-Express bis hin zu dem Ruf „Ho-ho-ho-Chi-Minh“ der 68er Bewegung. Ausführlich berichtet die Autorin über die französischen Revolutions- und Befreiungskriege sowie weitere in Europa stattgefundenen Kriege, die in den Konzentrationslagern umgekommenen Millionen von Juden sowie die Hexenverfolgung und -verbrennung.

Gabriele Weingartner geht ausführlich auf Deckengemälde ein, schreibt von Malern und Komponisten und als Germanistin ganz besonders von Autoren großer literarischer Werke, von denen sich zahlreiche Zitate in dem Plot finden. Zum besseren Verständnis sollte der Leser in diesem Zusammenhang mit der Biografie und den Werken des im letzten Jahrhundert lebenden deutschen Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer vertraut sein. Weiterhin halten reale Personen wie der 1838 verstorbene Forscher und Dichter Adelbert von Chamisso oder der 1975 verstorbene russische Komponist Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch Einzug in den Roman.

Grundsätzlich kann man sagen, dass der Roman „Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit“ keine leichte Kost ist und nur anspruchsvollen Lesern empfohlen werden kann, was nicht nur den verwendeten fremdsprachlichen Begriffen geschuldet ist, sondern in erster Linie auch den zum Nachdenken auffordernden grandiosen Umschreibungen, die etwas anderes als das wortwörtlich Geschriebene ausdrücken. Unzählige, nur am Rande von Gabriele Weingartner gemachte Anmerkungen lassen nur eine Vermutung zu, nämlich dass die Autorin ein unerschöpfliches Allgemeinwissen besitzt, das Voraussetzung für das Schaffen eines solchen Werkes ist.

Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit von Gabriele Weingartner

Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit
Limbus Verlag 2022
Hardcover mit Schutzumschlag
368 Seiten
ISBN 978-3-99039-223-2

Bildquelle: bücher.de
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