Sandra ist gerade einmal achtzehn, im ersten Jahr in der Ausbildung zur Physiotherapeutin und immer knapp bei Kasse, als sie den fünfundzwanzigjährigen Ronnie Renner kennenlernt. Ronnie betreibt einen Zweite-Hand-Laden, in dem er ausgemusterte, von ihm reparierte und wieder auf Vordermann gebrachte elektrische Geräte, hauptsächlich Unterhaltungselektronik und Computer, verkauft. Sein Laden gilt als Geheimtipp in der Stadt und Sandra, die auf der Suche nach einem preiswerten Plattenspieler ist, den sie ihrem Vater zum Geburtstag schenken möchte, besucht auf Empfehlung ihrer Schwägerin seinen Laden. Allerdings hat Ronnie im Moment keinen Plattenspieler in seinem Angebot, und Sandra kommt in den darauffolgenden Tagen nicht dazu, noch einmal nachzufragen.
Als sie am Sonntag mit ihrer Freundin Carina auf der Terrasse vor einer Eisdiele sitzt, hält auf dem Parkstreifen ein silbergraues Cabrio, in dem zwei junge Männer sitzen. Sandra erkennt den Fahrer erst, nachem er zwei Eistüten gekauft hat und sie anspricht. Es ist Ronnie, der inzwischen einen Plattenspieler für sie hat, den er ihr zu einem Sonderpreis überlassen will. Am nächsten Tag kommt Sandra kurz vor Geschäftsschluss in den Laden, um den Plattenspieler zu kaufen. Ronnie bietet ihr an, sie mit dem sperrigen Karton nach Hause zu fahren, und sie verabreden am nächsten Sonntag, gemeinsam einen Ausflug zu unternehmen.
Es folgen weitere Sonntagsausflüge, obwohl die Familie Sandra eindringlich vor Ronnie warnt, zumal Oma Finchen einiges aus der Vergangenheit der Familie Renner berichten kann. Doch da Ronnie ihr jeden Wunsch erfüllt, glaubt Sandra, er sei der Mann fürs Leben. Zwei Jahre später, kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung, wird sie schwanger, und nachdem sie ihre Prüfung bestanden hat, heiraten die beiden. Gleich nach der Hochzeit muss Sandra feststellen, dass Ronnie seine Versprechen nicht gehalten hat und sie in einer Bruchbude anstelle eines gemütlichen Heims gelandet ist. Erst einige Jahre später gelingt es ihr, sich von Ronnie zu trennen, als sie mit ihrer Tochter Josie als Pflegerin für die schwerstbehinderte Rebekka in das Haus der Familie Thelen zieht. Doch der Traum von einem neuen Leben zerbricht, als sie dort eines nachts überfallen wird und für sie ein Horrorszenario beginnt.
Nach dem Prolog des Romans Stille Befreiung* von Petra Hammesfahr ist auf der ersten Seite zu lesen: „Ronnies Vater war ein Jahr vor Ronnies Geburt gestorben.“ Oh weia, ist der Autorin da eventuell ein grober Fehler unterlaufen? Mitnichten, denn einige Zeilen später wird über die Gerüchte berichtet, wie eine solche zeitliche Diskrepanz zwischen Tod und Geburt dem Standesamt wohl plausibel gemacht worden sein könnte. Somit ist das Interesse des Lesers bereits von Anfang an geweckt. Das ändert sich auch im weiteren Verlauf des Romans nicht, denn die Handlung fesselt bis zur letzten Seite, und ganz allmählich baut sich ein Spannungsbogen auf, wie er in einem Psychothriller nicht besser sein könnte.
Doch zunächst nimmt das Geschehen im ersten Teil einen ziemlich banalen Verlauf, den man als „Szenen einer Ehe“ bezeichnen könnte. Die Autorin schildert darin den sozialen Abstieg der jungen unerfahrenen Protagonistin, die der Situation, die sich durch ihre Eheschließung ergeben hat, nicht gewachsen ist. Des Weiteren werden die Schicksale von Ronnie und dessen geistesgestörter Mutter Klara, sowie der traumatisierten schwerstbehinderten Rebekka thematisiert. Der Handlungsverlauf wird immer wieder durch Kapitel mit dem Titel „Sommernachtsalbtraum August 2018“ unterbrochen, die darauf hinweisen, dass etwas Fürchterliches passieren wird. Petra Hammesfahr hat diese eingeschobenen Kapitel so dosiert, dass sich der Leser dem Fortgang der Handlung kaum entziehen kann und er dem Ende entgegenfiebert. Ein erstklassiger vielschichtiger Roman, der eben nicht nur spannend ist.
Stille Befreiung von Petra Hammesfahr
Diana Verlag 2022
Klappenbroschur
430 Seiten
ISBN 978-3-453-29264-2