Literarische Provokation mit Tiefgang: Philip J. Dingeldeys „Koitus mit der Meerjungfrau“

Buchcover Koitus mit der Meerjungfrau

Gesellschaft am Abgrund – Geschichten, die nicht wegsehen

In seinem Buch Koitus mit der Meerjungfrau* präsentiert Philip J. Dingeldey neun Kurzgeschichten, die sich mit den Schattenseiten der Gesellschaft auseinandersetzen. Thematisiert werden unter anderem das Schicksal einer seit zehn Jahren obdachlosen Frau und eines studierten Philosophen, der von Arbeitslosengeld II lebt und bei der Tafel für Essen ansteht. Zwei Journalisten, die über ein Massaker an Dorfbewohnern in der Wüste berichten wollen, werden selbst auf brutale Weise zu Opfern. Weitere Figuren sind ein Mann, der sich Essen aus der Suppenküche holt, ein zum Tode Geweihter, der sich an eine „Vergessensmaschine“ anschließt, sowie der brave Hiob, der seinen Glauben an Gott verliert. Besonders verstörend ist die Geschichte eines Priesters, der sich im vermeintlichen Glauben an Gottes Willen auf brutalste Weise an einem Ministranten vergeht.

Schonungslos, sarkastisch, unbequem

Dingeldeys Geschichten zwingen den Leser, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die viele lieber ignorieren würden. Schonungslos und voller Brutalität konfrontiert der Autor sein Publikum mit schockierenden Bildern. Dabei kritisiert er nicht nur gesellschaftliche Missstände wie den Schlankheitswahn, hirnlose Fernsehformate, Mietwucher und übermäßige Impfungen gegen banale Krankheiten, sondern auch die Verspätungen der Deutschen Bahn, die globale Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit. Boulevardblätter werden von alternden Analphabeten gelesen – ein sarkastischer Seitenhieb auf mediale Verflachung. Dingeldey stellt die provokante Frage: Wie kann ein Mensch frei sein, solange er nicht frei von Existenzsorgen und finanziellen Problemen ist?

Zwischen Bibelzitaten und medizinischen Fachbegriffen

In seinen Erklärungen zum Analverkehr greift Dingeldey auf wissenschaftliche Erläuterungen aus dem Pschyrembel zurück. Auch die Bibel, die er als Quelle von Lügen und Heuchelei betrachtet, wird zitiert – ganze Passagen finden Eingang in seine Texte. Das Thema Kirche zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. In einer Erzählung wechselt der Autor bewusst in einen naiven Sprachstil, was der Geschichte eine überraschende Tiefe und Intelligenz verleiht.

Anspruchsvolle Sprache und sozialer Hintergrund

Inhaltlich und sprachlich sind die Geschichten in Koitus mit der Meerjungfrau* anspruchsvoll – umso bemerkenswerter angesichts des jungen Alters des Autors. Hinter scheinbar oberflächlichen Szenen verbergen sich tiefsinnige Gedanken. Dingeldeys bildhafte Sprache konfrontiert den Leser häufig mit Unappetitlichem. Stilistisch interessant ist der Wechsel zwischen Ich-Perspektive und erklärender Autorensicht. Als sozial engagierter Mensch, der in Projekten für Obdachlose arbeitet, kennt Dingeldey deren Nöte aus erster Hand.

Ein literarischer Aufruf zum Widerstand?

Vielleicht kann dieses Buch dazu beitragen, der immer größer werdenden Unterschicht bewusst zu machen, dass sie durchaus die Macht besitzt, sich zur Wehr zu setzen. Doch dafür müssten sich Arbeits- und Wohnungslosen zusammenschließen und gemeinsam aufbegehren.

Koitus mit der Meerjungfrau von Philip J. Dingeldey

Buchcover Koitus mit der Meerjungfrau
Digital-Verlag Großrosseln 2012
Broschur
97 Seiten
ISBN 978-3-936983-67-8

Bildquelle: Digital-Verlag Großrosseln

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