Interview mit Lizbeth Khiel über ihr Buch „Drei Farben: Gold – Aurelia“

Lizbeth Khiel hat das Schlimmste durchgemacht, was einer Mutter passieren kann, nämlich ein Kind zu verlieren. Bei ihrer dritten Schwangerschaft hatte sie von Anfang an ein ungutes Gefühl. In der 36. Woche ist sie auf den Bauch gestürzt. Weil sich das Kind nicht mehr bewegt hat, fuhr sie sofort in eine Klinik und hat um eine Ultraschallaufnahme gebeten. Schließlich wurde Aurelia klinisch tot geboren und musste reanimiert werden. Nach einem lebensgefährlichen Unfall kämpfte Lizbeth Khiel mit letzter Kraft darum, ihr sterbendes Kind noch zu sehen, bevor es in eine andere Klinik gebracht wurde. Sie hat drei schwere Notoperationen überstanden und wurde auf die Intensivstation verlegt. Ein Nahtoderlebnis kehrte für sie in dieser Situation plötzlich alle ihre bisherigen Haltungen und Werte um. Es geht ihr um die letzten Fragen der Menschheit: Leben und Tod. Freiheit und Bestimmung. Schuld und Sühne. Gott und Mensch. Vater und Mutter. Eltern und Kind. Sie gelangte zu unerwarteten Schlussfolgerungen, die ihr Weltbild vollkommen veränderten und auch ihr Gottesbild von Grund auf revolutionierten. „Eine Liebeserklärung an das Leben!“, wie sie es nennt. Letztlich hat Aurelia den Kampf ums Überleben verloren und ist wenig später verstorben.

    In meinen Augen hat Aurelia nicht den Kampf um ihr Überleben verloren, denn sie ist, nachdem sie über eine Stunde klinisch tot war, vom Ärzteteam wieder reanimiert worden. Ihre Lunge war innen mit Blut verklebt und sie musste künstlich beatmet werden. Es grenzt an ein medizinisches Wunder, dass sie überhaupt wieder zurückgeholt werden konnte. Ich bin heute überzeugt, meine Tochter ist zurück gekommen für wenige Stunden, um etwas noch in Ordnung zu bringen, bevor sie für immer geht.

Ja, das haben Sie so auch in Ihrem Buch Drei Farben: Gold – Aurelia festgehalten. Mit den geschilderten Erlebnissen wollen Sie anderen Eltern in ähnlicher Situation Mut machen. Glauben Sie, dass Ihnen das gelungen ist? Gab es inzwischen positive Rückmeldungen?

    Natürlich gibt es positive Resonanz. Mein Buch wurde als „sehr berührend, poetisch, feinfühlig und tiefsinnig“ bezeichnet. Es nimmt den Leser gefangen und vermittelt viele wichtige Gedanken und Informationen. Nicht nur für trauernde Eltern, sondern auch für Angehörige und Freunde, Bekannte, die nicht wissen, wie man mit dem Tod eines Babys während der Schwangerschaft, rund um eine (eventuell stille) Geburt oder in den ersten Lebensmonaten umgehen kann. Es gibt viele Möglichkeiten, sich positiv einzubringen und zu unterstützen. Viele Menschen wissen nicht, wie. Dazu gibt es in meinem Buch Drei Farben: Gold – Aurelia ganz verschiedene Beispiele als Anregung. Aber auch für das Klinikpersonal ist es wichtig, angemessen zu reagieren und die richtigen Worte zu finden. Mein Buch klärt auf, dass es ganz wesentlich ist für einen gesunden Trauerprozess, sein eigenes Kind zu sehen. Weil es sehr schwer oder fast unmöglich ist, sich von jemandem zu verabschieden, dem man noch nie begegnet ist. Und den man noch nie willkommen geheißen hat.

Ich kann nachempfinden, dass einem Abschied zwingend erst ein Kontakt vorausgegangen sein muss. Was hat Ihnen selber in dieser schweren Zeit geholfen? Womit konnten Sie sich trösten? Schließlich hatten Sie zu Hause schon zwei Kinder, um die Sie sich kümmern mussten.

    Am Anfang geht es um die Anerkennung des Verlustes. Da ist es wohl auch ganz natürlich, dass man mit dem eigenen Schicksal hadert. Der Tod des eigenen Kindes stellt in jedem Menschenleben eine unumstößliche Zäsur dar. Es gibt ein Davor und ein Danach, für immer. Wie in einem Wirbelsturm, einem Hurrikan, Tornado oder Taifun wird alles, was kurz zuvor noch in Ordnung war, wild durch die Luft gewirbelt, man selbst mittendrin. Es sind unglaublich starke Kräfte am Werk. Ich empfand es so, als würde ich in zwei verschiedene Richtungen gezogen: einerseits die unerträgliche Sehnsucht nach meinem verstorbenen Kind, andererseits die Liebe zu meinen beiden lebenden Kindern, und meine Pflicht, ihnen Halt und Geborgenheit zu geben. Viele Trauernde befassen sich nicht nur mit sehr intensiven Gefühlen, sondern haben auch noch viel Organisatorisches zu bewältigen. Dazu kommt noch die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Thema: Was bedeutet es für mich, dass ich so etwas Entsetzliches erleben muss? Wie kann das sein, dass ich so etwas Schreckliches verdient habe? Was tut mir mein Schicksal damit an? Warum gerade ich? Auf diese Fragen habe ich eine gute und konstruktive Antwort gefunden und in meinem Buch geschildert.

    In Wirklichkeit ist es ein ganzes System von Angehörigen und Freunden, das betroffen ist. Wie wichtig emotionale „Erste Hilfe“ für Eltern durch dieses System ist und wie es funktionieren kann, wenn viele Einzelne mit ganz vielen Dingen, liebevollen Geschenken und guten Ideen die Situation selbst mitgestalten und bereichern, hab ich in meinem Buch erzählt.

    Ein Beispiel von vielen: Meine Mutter hat am Morgen des Tages von Aurelias Beerdigung alle Blumen in ihrem Garten direkt unter dem Blütenkelch abgeschnitten. Ohne uns etwas davon zu sagen, ging sie mit zwei großen Körben zum offenen Grab. Als Aurelias kleiner Sarg später runtergelassen wurde, sah ich erst die vielen Blumen und Blüten aus der Tiefe heraufleuchten. Ich wusste nicht, wer das getan hatte. Aber ich war vollkommen ergriffen von diesem Bild! Meine Mutter sagte mir später: „Ich wollte, dass Aurelia auf einem Blumenbett liegt!“

Das ist wirklich ein ganz besonderes Geschenk, das Ihre Mutter ihrer Enkelin Aurelia gemacht hat und es berührt, sich diese Geste vorzustellen. Ihnen hat diese Anteilnahme sicherlich auch geholfen. War auch der Glaube an Gott für Sie eine Stütze? Immerhin haben Sie in Ihrem Buch viele Seiten zu diesem Thema verfasst.

    Auch dazu habe ich in meinem Buch geschildert, wie unangenehm und sogar belastend am Anfang jede Bemerkung von anderen über Themen wie Himmel, Engel, Gott etc. für mich war. Ich empfand alle diese Worte über den Tod meines Kindes als sehr schlimm und extrem unpassend. Ich empfand all das als Bagatellisierung. Und als völlig unangebrachte Bevormundung! Deshalb habe ich auch davon gesprochen, wie wichtig am Anfang die Anerkennung des Verlustes ist!

    Die Gedanken über Gott haben sich zuerst nach dem Nahtoderlebnis unausgesprochen in mir gestaltet. Ich hatte plötzlich die Überzeugung, dass es im Leben um ganz andere Dinge geht, als uns in der Konsumgesellschaft ständig suggeriert wird. Auch Martin Luther hat seine Tochter verloren. Ich bin sicher, dass für Menschen mit eigenem Glauben diese Situation sogar noch schlimmer sein kann als für andere, die nicht an Gott glauben und dadurch ihr Schicksal nicht einem „liebenden Vater“ anvertraut sehen. Ich habe, um innere Orientierung zu erhalten, mich immer wieder in Entscheidungssituationen gefragt, was das bisher Beste und das Schlechteste in meinem Leben war. Die Antworten blieben immer konstant. Ich begann daraufhin eine interessante Umfrage. Die Ergebnisse überraschten mich noch viel mehr! Ich begriff, dass wir, wenn wir wüssten, was Glück wirklich ist, im Leben ganz andere Prioritäten setzen würden! Die Umfrage hat mich indirekt wieder dazu gebracht, mein Gottesbild vollständig zu revidieren. Wie das Glück auch für alle, die mit großem Unglück konfrontiert sind, leicht erreichbar wird, habe ich in meinem Buch erzählt.

Was die Prioritäten angeht, die wir alle in unserem Leben setzen sollten, kann ich Ihnen nur voll und ganz zustimmen. Und auch, dass die Konsumgesellschaft maßgeblich daran Schuld ist, dass viele sich nicht mehr auf das Wesentliche konzentrieren. Wieviel Zeit ist seit dem Tod von Aurelia vergangen? Aus dem Inhalt Ihres Buches geht nicht hervor, wie lange dieses traumatische Erlebnis zurückliegt. Wie viele Jahre haben Sie gewartet, bevor Sie den Entschluss fassten, darüber zu schreiben?

    Meine Gedichte sind direkt in den Situationen verfasst worden, die sie beschreiben. Der Rest des Buches ist organisch gewachsen. Vieles habe ich erstmal für mich und meine Familie schriftlich festhalten wollen. Als ich meinem Vater von meinem Nahtoderlebnis erzählte, sagte er sofort: „Das ist wichtig. Schreib das auf!“ Der Entschluss dazu kam eigentlich durch das Interesse von anderen zustande.

Aber allein der Wunsch, eine Station im Leben schriftlich festzuhalten, reicht ja bekanntlich nicht aus. Man muss auch dazu in der Lage sein, ein Geschehen oder ein Erlebnis zu strukturieren und in verständliche Worte zu fassen, wie Sie es getan haben. Unter anderem haben Sie seinerzeit bewusst darauf verzichtet, das Krankenhaus zu verklagen, weil Ihnen keine noch so große Summe Geld Ihr Kind zurückgebracht hätte. Immerhin ging durch die Unkenntnis und offensichtliche Fehleinschätzung der Hebamme wertvolle Zeit verloren. Für einen Ultraschall sah sie keine Notwendigkeit und niemand kann im Nachhinein sagen, ob rasches Handeln Aurelia hätte retten können. Hat sich das alles tatsächlich in einer Klinik in unserem Land zugetragen und nicht etwa in einem Buschkrankenhaus?

    Nein, nein, es ist alles so passiert, wie ich es erzähle. Es wurde nichts weggelassen und nichts hinzugefügt!

Und trotzdem: Es ist fast unvorstellbar! In einer Zeit, wo der Kreißsaal mit modernsten Geräten ausgestattet ist und Hebammen eine umfangreiche Ausbildung bekommen haben, dürfte so etwas einfach nicht passieren. Wenn ich versuche, mich in Ihre Lage zum Zeitpunkt des Eintreffens in der Klinik zu versetzen, dann müssen Sie aufs Höchste angespannt gewesen sein, aus Sorge um Ihr ungeborenes Kind. Die meisten Menschen sind dann kaum noch in der Lage, klar zu denken, Entscheidungen zu treffen, und schon gar nicht haben sie die Kraft, sich gegen das Klinikpersonal aufzulehnen. Sie haben dagegen resolut und mit Nachdruck darauf bestanden, dass mit dem Kind etwas nicht stimmen kann, weil sie keine Kindsbewegungen mehr spürten. Die Hebamme haben Sie so lange bedrängt, bis sie endlich einen Arzt hinzugezogen hat. Sind Sie damals über sich selbst hinausgewachsen? Hat Ihr Mutterinstinkt Kräfte mobilisiert, die Ihnen selbst fremd waren? Oder sind Sie von Natur aus so ein Typ?

    Für mich ging es damals einfach nur um mein Kind. Ich wollte alles tun, um mein Baby zu schützen. Ich wollte unbedingt für Aurelia Hilfe holen. Dass Aurelia klinisch tot war, dass es bei der Notoperation nur noch um mein Leben ging, habe ich erst später erfahren. Die Sorge um mein ungeborenes Kind hat mir mein Leben gerettet.

Ja, ich glaube, zu diesem Zeitpunkt haben Ihre Urinstinkte die Oberhand behalten. Lassen Sie uns noch einmal etwas in der Zeit zurück gehen: Dass die Schwangerschaft ein trauriges Ende nehmen könnte, haben Sie schon in einem Traum „gesehen“, als sie erst im vierten Monat waren. Wie erklären Sie sich das? So einem Phänomen haftet ja etwas Spiritistisches, Okkultes, Übersinnliches an. Glauben Sie an die Fähigkeit des „Hellsehens“?

    Mein Buch ist sehr schonungslos und offen geschrieben. Die Träume bzw. das Nahtoderlebnis sind so ein Thema, das ich wirklich nur mit meinem engsten Kreis und davon nur mit ganz wenigen Menschen meines Vertrauens besprochen habe. Zur Geschichte von Aurelia gehört das zwingend dazu. Ich habe auch sehr viel Stärke und Trost daraus für mich bezogen, die Aussagen dieser vier Texte waren ganz wesentlich für meine emotionale Genesung. Allerdings bin ich kein Mensch, der sich mit esoterischen Themen beschäftigt. Ich habe ganz genau beschrieben, wie unangenehm und unverständlich diese Vorahnungen, diese Träume für mich vor Aurelias Tod waren. Ich bin mir aber bewusst, dass die Träume nicht etwas sind, das allen Menschen plausibel erscheint.

    Ich kann nur ehrlich sagen, dass die Gedanken aus dem Nahtoderlebnis nicht von mir selbst stammten. Ich schildere ganz genau, wie ich nach und nach und erst mit großem Widerstand in einem langen Dialog mich diesen für mich sehr fremden und unangenehmen Wahrheiten annäherte und zuletzt auch das Wesentliche verstanden habe. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass es mir im Nachhinein mehr als peinlich war, dass ich mich bei einem Besuch meiner Tochter in erster Linie damit befasste, welche Frisur und Kleidung sie trägt und dass ich sie als „adrett und apart“ empfand. Zwei Worte, die normalerweise nicht aus meinem alltäglichen Sprachgebrauch stammen! Ich habe bewusst keinerlei Interpretation für das Geschilderte in meinem Buch erwähnt. Die Leser sollten die Freiheit haben, sich selbst dazu eine Meinung zu bilden. Ich möchte nur schildern, wie es war. Mein Eindruck war im Nachhinein, dass Aurelia die Mode und Frisur der „Roaring Twenties“ trug. Auch die beiden Adjektive dürften aus dieser Zeit stammen. Ob die flachen Pumps damals schon in Verwendung waren, weiß ich nicht. Die positive Wirkung dieser Nahtoderfahrung – und die vollkommen veränderte Stimmungslage in dieser Nacht auf der Intensivstation – sind durch die SMS, die ich meinem Mann geschrieben habe, belegt. Der beginnende Sterbeprozess bei meiner Tochter, nur wenige Minuten nach der SMS, in einer ganz anderen Klinik, weit weg von meinem Krankenbett auf der Intensivstation, ist ebenfalls belegt.

    Ich war vor dem Nahtoderlebnis voll Wut, Zorn und Hass. Danach war ich tief überzeugt, dass alles gut werden würde. Ich war wie durch ein Wunder fähig, aus einer Haltung der Anklage zu innerem Frieden zu finden. Mein Kommentar dazu lautet: Meine Tochter hat mir wohl in weniger als zwei Stunden
    Gesprächszeit Jahre an Therapie erspart!

Wie genau haben Sie Ihr Nahtoderlebnis erfahren?

    Ich schildere drei wichtige Träume und ein Nahtoderlebnis. Das alles hat sich vor Aurelias Tod zugetragen. Die Botschaft der Träume ergab erst im Nachhinein, nach Aurelias Tod, Sinn. Ich konnte mit den doch recht klaren Aussagen davor einfach nichts anfangen. Tod war bis dahin für mich etwas, das nur alte Menschen betraf, die vom Leben satt geworden waren. Ich konnte nicht begreifen, dass diese Träume mir sagen sollten, dass mein Kind sterben würde.
    Bei meinem Nahtoderlebnis lag ich auf der Intensivstation. Es gab drei verschiedene Teile dabei, drei verschiedene Ebenen. Zuerst war die Ebene rein akustisch, ein Gespräch. Ich war bei klarem Verstand und ganz normalem Bewusstsein. Ich sah alle Lämpchen und Geräte und die Krankenschwester hinter einem Glasfenster vor Monitoren sitzen. Ich spürte plötzlich, dass jemand am Kopfende hinter meinem Bett stand. Meine Tochter kam mich besuchen. Sie wollte mit mir sprechen. Sie war erwachsen. Nachdem das Gespräch zuerst nicht ganz so zufriedenstellend verlaufen war, sah ich sie wenige Minuten später am Besuchersessel sitzen. Sie hatte eine ungewöhnliche Frisur und trug altmodische Kleidung. Ich habe nicht darüber nachgedacht, welche Erklärung es für die Tatsachen gibt, sondern ich kritisierte in Gedanken ihre äußere Erscheinung und dachte, etwas altmodisch das Ganze! Sie sollte die Haare ganz anders tragen! Auch die Mode gefiel mir nicht. Ich überlegte mir, was sie stattdessen lieber anziehen sollte… Erst, als sie dann einen ganz besonderen Satz flüsterte, konnte sie mich emotional wirklich erreichen. Ich sah alles, wie sie es sah. Ich sah uns, ihre Eltern, am Tor des Lebens stehen. Ich begriff endlich, dass alles, was sie mir gesagt hatte, die Wahrheit war. Ich verstand endlich, worum es ihr wirklich ging. Und ich konnte ihr ihren größten Wunsch erfüllen. Wenige Minuten später machte sie sich bereit, loszulassen und zu sterben. Nichts war unerledigt zurückgeblieben. Alles war in Ordnung. Sie konnte in Frieden gehen.

Ich finde keine Worte, um das zu kommentieren. Alles, was ich dazu sagen könnte, wäre nicht richtig. Es ist einfach zu ergreifend!

Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt vielleicht zu indiskret werde: Sie haben in Ihrem Buch deutlich gemacht, dass Sie von Ihrem Mann in der Klinik keinerlei Unterstützung bekommen haben, um Ihre Forderungen der Hebamme gegenüber durchzusetzen. Wie hat sich das auf ihre Ehe, Ihr weiteres Zusammenleben ausgewirkt? Haben Sie ihrem Mann Vorhaltungen gemacht? Sind Sie heute darüber hinweggekommen? Konnten Sie seine Passivität der Unwissenheit zuschreiben? Immerhin gehen viele Beziehungen wegen eines behinderten oder toten Kindes kaputt und einige Leser Ihres Buches könnten sich fragen, was wohl aus Ihrer Ehe geworden ist.

    Ein Kind zu verlieren, ist wohl die intensivste Stresssituation, die eine Paarbeziehung treffen kann. Vorwürfe habe ich meinem Mann, wie in meinem Buch beschrieben, schon direkt im Krankenhaus, noch vor Aurelias Geburt, gemacht. Durch das Nahtoderlebnis hat sich für mich sehr viel verändert. Meine Haltung wurde um 180 Grad diametral entgegengesetzt. Für mich ist nicht die Kausalität wichtig, sondern die Intention. Hat mein Mann sich in voller Absicht so verhalten? Sicherlich nicht. Ich glaube, da war von seiner Seite auch sehr viel Wunschdenken dabei. Natürlich wollte er der Hebamme glauben, dass alles gut war und wir unbesorgt nach Hause gehen konnten. Wenn ich das Nahtoderlebnis nicht als große Hilfe und Unterstützung zur Verfügung gehabt hätte, wäre es mir wahrscheinlich nicht gelungen, über meine persönliche Kränkung hinwegzusehen. Im Wesentlichen wurde mir im Nahtoderlebnis ermöglicht, die wichtigsten Stationen im Trauerprozess wie im Schnelldurchlauf zu erleben. Ich konnte nicht anders, als für meinen Mann Verständnis aufzubringen. Ohne diese innere Einstellung des Verständnisses wäre es mir nicht möglich gewesen, die Beziehung aufrecht zu erhalten. Ich konnte ihm deshalb auch nicht mehr Vorwürfe machen. Das Ganze hat sich also so auf meine Ehe ausgewirkt, dass es durch die heilende Wirkung des Nahtoderlebnisses zu keiner weiteren Belastung oder Beeinträchtigung zwischen meinem Mann und mir mehr gekommen ist.

    Eine Freundin hat mich auch gefragt, wie ich überhaupt verzeihen konnte und bemerkt, dass sie dazu nicht in der Lage war. Ich antwortete ihr, dass ich es auch nicht geschafft hätte. Nicht ohne meine Tochter!
    Wenn man sich als Außenstehender (z.B. als Krankenhauspersonal) aber einmal grundsätzlich klar macht, dass es beim Verlust eines Babys während der Schwangerschaft, rund um eine (eventuell stille) Geburt oder in den ersten Lebensmonaten ja nicht nur um eine Erklärung, also um eine exakte Diagnose, sondern um einen vollwertigen Menschen, eine kleine, aber vollständige Persönlichkeit, ein verstorbenes Kind und dessen ganzes Umfeld geht, ist schon sehr viel wichtige Erkenntnis gewonnen. Insbesondere, dass es auch nicht nur um ein verstorbenes Kind und dessen Mutter geht, sondern dass es in den meisten Fällen auch Väter gibt, die ebenfalls ihr eigenes Kind verloren haben! – Und die meistens vergessen werden.
    In meinem Nahtoderlebnis ist es eine der zentralen Botschaften, dass Väter für Kinder genauso wichtig sind wie Mütter. Ganz konkret in der Situation, in der die Eltern im Blickwinkel des Kindes stehen, wenn das Kind das Tor des Lebens sieht. Gleichwertigkeit, nicht Gleichartigkeit, ist eine der größten Herausforderungen und eines der größten Geheimnisse des Lebens überhaupt…

    In der Schweiz wurde das Buch von Hannah Lothrop über den Umgang mit frühem Kindsverlust in viele Kliniken gebracht, um das Personal für die Thematik zu sensibilisieren und zukünftigen betroffenen Eltern Hilfe und Orientierung zu bieten. Ich würde mir dasselbe auch für mein Buch AURELIA wünschen! – In der Schweiz, in Deutschland und im gesamten deutschsprachigen Raum. So viele sinnvolle und schöne Anregungen für die Begegnung mit Betroffenen, aber auch sehr viele liebevolle Details rund um die Trauerfeier und für die Vorbereitung auf das Begräbnis sind darin enthalten. Mein Buch ist auch als eBook erhältlich. Vielleicht ergibt das tausendfache Hilfe, wenn man die Geschichte von Aurelia zum Beispiel in Kliniken als Buch zur Information auslegt – für alle, die sich mit dem Thema „Tod eines Kindes“ befassen, ganz egal, ob beruflich oder privat. Und man sollte Infos zu meinem Buch auch auf die zuständige Klinik-Homepage stellen, sodass betroffene Eltern, Freunde und Angehörige bei Bedarf und Interesse darauf zugreifen können.

    Bei der ersten Begegnung mit Aurelia nach ihrem Tod, etwa eine Woche später im Bestattungsinstitut, konnte ich miterleben, wie mein Mann sofort auf unser festlich gekleidetes Kind zuging und Aurelia ganz behutsam mit seinem Zeigefinger über ihre kleine Faust strich. Mich hat diese Geste sehr berührt. Mein Mann hatte vor unserem toten Kind nicht halb so viel Scheu wie ich!

    Natürlich trauern Väter genau so sehr und intensiv wie Mütter, sind aber sehr oft in erster Linie darum bemüht, sich mit ihrer Trauer meist stark zurückzuziehen; sei es aus Liebe und Rücksicht auf ihre Partnerin oder aus dem Wunsch heraus, Jahrzehnten an Konditionierungen entsprechen zu wollen. Der Mann muss stark sein und alle Emotionen mit sich selbst ausmachen…

    Manchmal zerbricht dann auch noch die Beziehung der traumatisierten Eltern, weil Frauen sich dadurch im Stich gelassen fühlen können, wenn ihr Partner mit seiner Situation ganz anders umgeht als sie. Wahrscheinlich ist das Allerwichtigste, jemand anderem zuzugestehen, dass er auf andere Art und Weise trauert als man selbst.

    Es gibt auch Initiativen, trauernde Väter behutsam auf ihrem Weg in eine Zukunft nach dem Verlust zu begleiten. Ich bin der Meinung, dass hier noch sehr viel an Bewusstseinsbildung nötig ist. Auch unter Frauen und Klinikpersonal.

    Die Mütter stehen fast zwangsläufig immer im Fokus. Sie sind es, die medizinische Eingriffe durchstehen müssen und sehr viel Aufmerksamkeit bekommen. Betroffene Väter haben genauso viel Aufmerksamkeit verdient wie die betroffenen Mütter! Aber nicht nur Eltern sind direkt betroffen. Fast immer gibt es Großeltern, die um ihr Enkelkind trauern, oft gibt es auch ältere Geschwister, die um ihren kleinen Bruder oder ihre kleine Schwester wissen, die unerwartet gestorben sind. In Wirklichkeit ist es ein ganzes System von Angehörigen und Freunden, das betroffen ist. Wie wichtig emotionale „Erste Hilfe“ für Eltern durch dieses System ist und wie es funktionieren kann, wenn viele Einzelne mit ganz vielen Dingen, liebevollen Geschenken und guten Ideen die Situation selbst mitgestalten und bereichern, habe ich in meinem Buch erzählt.

Sie haben gerade Geschwister erwähnt, deren kleiner Bruder oder kleine Schwester gestorben sind und die darum wissen. Wie haben eigentlich Ihre beiden älteren Kinder reagiert, als das ihnen angekündigte Geschwisterchen nicht kam? Was geht in einem Kind in so einer Situation vor?

    Das kommt auch sehr auf das jeweilige Alter des Kindes an und ist sicher auch sehr unterschiedlich. Wichtig ist meiner Meinung nach, dass man auf die Bedürfnisse des Kindes eingeht und das Kind weder mit zu viel Information überfordert, noch unnatürlich von allem fernhält. Fragen sollten immer beantwortet werden. Kinder wollen wissen, was vor sich geht. Und sie wissen, was sie brauchen. Konstantin war im Grundschulalter und wollte mir gern helfen, für Aurelia die Kleidung für ihre Beerdigung auszusuchen. Ich war natürlich damit sofort einverstanden. Wir fanden einen Strampler mit bunten Schmetterlingen drauf. In Erinnerung an Elisabeth Kübler-Ross, eine Schweizer Ärztin und Sterbeforscherin, die den Tod mit dem Schlüpfen eines Schmetterlings vergleicht. Er wollte auch wissen: „Mama, was ist das: Sterben?“ Meine Antwort lautete: „Das ist ganz einfach. Geborenwerden ist das erste Mal Einatmen. Sterben ist das letzte Mal Ausatmen.“

    Frederika war erst zwei Jahre alt, und ihr hatte ich immer, wenn sie Aurelia in meinem Bauch etwas zurief und enttäuscht war, wenn sie nur einen kleinen Tritt in ihre streichelnde Hand bekam, davon erzählt, dass ich bald mal ein paar Tage ins Krankenhaus gehen und dass ich danach mit Aurelia wieder nach Hause kommen würde. Sie fragte mich beinahe täglich mit dem Blick auf meinen flachen Bauch, wo denn nun das Baby wäre? Ihr zeigte ich dann immer das Foto von Aurelia. Für sie war es wichtig, ihre kleine Schwester zu sehen und zu wissen, wie unser Baby ausgesehen hat.

    Für eine Freundin von mir war es schockierend, dass unsere beiden Kinder bei Aurelias Beerdigung dabei waren. Mir war es wichtig, sie nicht künstlich auszuschließen. Frederika saß auf den Schultern ihrer Tante und hatte einen guten Überblick. Konstantin ging an der Hand zwischen seinen Großeltern, weil mein Mann mich nach drei schweren Notoperationen im Rollstuhl schieben musste.

Wenn Ihre Kinder älter sind, werden sie sich ganz bestimmt an die Beerdigung erinnern und Ihnen dafür danken, dass sie dabei sein durften. Noch mal ein Wort zu den im Buch verwendeten medizinischen Fachbegriffen, von denen lediglich die Abkürzung PDA genannt und die intrauterine Asphyxie nicht weiter erklärt wurde. Für unsere Leser sei an dieser Stelle ergänzt, dass es sich bei der Abkürzung um eine Periduralanästhesie handelt, eine nahe am Rückenmark gesetzte Betäubung, die im Volksmund fälschlicherweise als Rückenmarksspritze bezeichnet wird, und zum anderen um eine Unterversorgung des Fötus mit Sauerstoff im Mutterleib. Haben Sie vielleicht gar nicht an eine weitere Erklärung gedacht, weil sie selbst über medizinische Vorkenntnisse verfügen oder sogar aus diesem Bereich kommen?

    Medizinische Details waren für mich nicht wirklich wichtig. Ich habe die Fakten erwähnt, so wie sie im Geschehen in Gesprächen vorkamen. Ich dachte mir, dass es klar ist, worum es geht, wie Aurelia gestorben ist. Wer sich für die spezielle Diagnostik interessiert, kann sie jederzeit nachschlagen.

Bereits in meiner Rezension habe ich die Frage nach den Urhebern gestellt, sowohl was die Kinderzeichnungen anbelangt, als auch nach denen, die offensichtlich von einer erwachsenen Hand stammen. Verraten Sie unseren Lesern, wer die gemacht hat?

    Sehr gerne! Aurelias Geschwister haben natürlich mitbekommen, dass ich über ihre verstorbene Schwester ein Buch schreibe. Als ich gefragt wurde, ob ich Illustrationen beifügen möchte und ich Zeichnungen von mir auswählte, wollten sie alle auch eigene Werke beisteuern und so für ihre Schwester als Geschenke auswählen. So kamen Lieblingstiere, Szenen aus ihrem Alltag, wie „Mom kocht“ und „Dad kocht“ (Stichwort Gleichberechtigung!) und zwei Fahrräder von Vater und Sohn oder Phantasiewesen vor. Ich fand und finde Kinderzeichnungen wunderbar und heilsam und ich betrachte sie als Zeichen von Kreativität, Resilienz und Lebensfreude.

Meine letzte Frage bezieht sich auf die Ankündigung einer Trilogie auf dem Cover ihres Buches. Danach sollen zwei weitere Bände folgen. Verraten Sie unseren Lesern, was darin thematisiert wird?

    Mein Buch „Aurelia“ ist der Farbe „Gold“ gewidmet. Aurelia bedeutet „die Goldene“. Nach der Verzweiflung über ihren Tod und das riesige Unglück stellte sich mir zwingend die Frage nach dem Glück, nach dem, was Glück wirklich ist. Etwas, das – wie Gold – immer seinen wahren Wert behält. Etwas, das nicht im Wirbelsturm des größten Unglücks weggeweht werden kann. Etwas Absolutes, Beständiges, das nie bedroht und nie ersetzt werden kann.

    Im Mittelalter hat man festgestellt, dass Gold weder in den Hintergrund gebracht, noch in den Vordergrund gestellt werden kann. Es bleibt immer gleich. Im Gegensatz zu allen anderen Farben, die durch Helligkeit oder Dunkelheit bewusst in den Raum gesetzt werden können, hält Gold immer die Äquidistanz. Gold lässt sich nicht vereinnahmen und willkürlich manipulieren. Gold steht immer außerhalb von willkürlicher Manipulation und immer im Mittelpunkt. Gold steht nicht unter der Herrschaft von Illusionen von Raum und Zeit. Wie das Glück und die Ewigkeit! Gold bedeutet das absolut Gute, das wahre und reinste Glück. Erst vor dem Hintergrund des schrecklichsten Unglücks wird vollkommen klar, was Glück wirklich ist! Und dass es immer erreichbar ist.

    Wenn Sie mehr über die nächsten zwei Bände meiner Trilogie wissen wollen, gebe ich Ihnen natürlich gerne darüber Auskunft! Eines kann ich versprechen: Es bleibt interessant, überraschend und spannend!
    Die beiden anderen Bücher „Rot“ und „Schwarz“ sind bereits geplant bzw. in Arbeit. Sie werden sich mit meiner Interpretation von Rot bzw. Schwarz befassen, den Farben der deutschen Flagge. Jede Farbe steht dabei, wie Gold für Glück, für ein eigenes Thema. So viel kann ich schon heute verraten: Rot wird sich mit dem Thema „Liebe“ beschäftigen.

Da bin ich aber gespannt und sicher auch unsere Leser. Ich danke Ihnen für das Interview und wünsche Ihnen noch viele glückliche Jahre im Kreise Ihrer Liebsten!

    Danke schön, das wünsche ich Ihnen auch!

Drei Farben: Gold – Aurelia von Lizbeth Khiel

Drei Farben: Gold - Aurelia
Shaker Media 2015
Broschur
347 Seiten
ISBN 978-3-95631-362-2

Bildquelle: Shaker Media
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