Hanne – Die Leute gucken schon von Felicitas Fuchs

Hanne - Die Leute gucken schonDie zweimal geschiedene Minna Volkening lebt mit ihrer elfjährigen Tochter Hanne in Minden, wo sie eine Änderungsschneiderei führt, die gerade das Überleben sichert. Trotz des Unterhaltes von Fritz für Hanne kann Minna ihr nicht den Besuch einer höheren Schule ermöglichen. Als sie wegen einer Lungentuberkulose für drei Monat in die Lungenheilanstalt nach Bad Lippspringe muss, will sich ihr Bruder Karl um seine Nichte kümmern, wogegen sich allerdings seine Ehefrau Wilhelmine wehrt. Karl, der seine Eheschließung längst bereut hat, bleibt nichts anderes übrig, als Hanne zu den Schaustellern Fannie und Hans Winter zu bringen, die sich liebevoll um das stets folgsame und brave Mädchen kümmern.

Nach ihrer Rückkehr stellt Minna enttäuscht fest, dass viele Kunden nicht mehr bei einer Schwindsüchtigen nähen lassen wollen. Das Geld ist so knapp, dass sie nicht einmal die Ratschläge des Arztes, sich gut zu ernähren, befolgen kann. Minna muss die Schneiderei aufgeben und nimmt notgedrungen eine Arbeit in einer Zigarrenfabrik an. Zu allem Unglück erkrankt Hanne ebenfalls an Tuberkulose und wird in den folgenden Jahren nach Rückfällen immer wieder behandelt. Noch nicht volljährig lernt sie Paul Wagner, den stellvertretenden Leiter des Kulturamtes kennen, und lässt sich von ihm verführen. Zu spät erfährt Hanne, dass Paul eine Ehefrau und Kinder hat. Minna, die ihrer Tochter unbedingt helfen will, lässt sich auf eine geheime Vereinbarung ein.

Der Roman „Hanne – Die Leute gucken schon“ ist bereits der zweite Band einer Trilogie, der von Juli 1951 bis Mai 1978 reicht. Felicitas Fuchs erinnert an so viele Dinge der damaligen Zeit, etwa an die neue Faser Trevira, die Sammelbesteller diverser Versandhäuser, Sänger und ihre Musik, Schauspieler und ihre Filme sowie im weiteren Handlungsverlauf auch an die Gastarbeiter. Im Zusammenhang der Schaustellerin Fannie nennt die Autorin die damals beliebten Fahrgeschäfte Schiffschaukel, Kettenflieger, Raupe mit dem skandalträchtigen Verdeck sowie die neu hinzukommende Attraktion Hula Hoop.

Zudem hat Felicitas Fuchs mit der Naziherrschaft ein düsteres Kapitel aufgegriffen: Juden wurden abtransportiert, in Konzentrationslagern gefoltert und ermordet, Sinti und Roma wurden zwangssterilisiert, und die Nazis konnten nach dem Krieg auch noch einflussreiche Posten bis in die Führungsetagen beziehen. Über ihre Kriegserfahrungen, so führt die Autorin aus, haben die Menschen so gut wie nie geredet und alle diesbezüglichen Erlebnisse weitgehend verdrängt. Sehr authentisch hat Felicitas Fuchs die Kindererziehung der 1960er Jahre dargestellt, wozu auch die damals gebräuchliche Anrede „Frollein“ im Zusammenhang einer mütterlichen Ermahnung zählt. Deutlich hat die Autorin das Schicksal der meisten verheirateten Frauen jener Zeit herausgestellt, die sich ihrem Ehemann beugen mussten, bei Auflehnung schuldig geschieden wurden und denen dann auch noch die Kinder weggenommen wurden.

Ältere Jahrgänge werden sich noch gut an die Röntgenbusse erinnern können, in denen Röntgenreihenuntersuchungen zur Früherkennung der Tuberkulose durchgeführt wurden. Die auch als Schwindsucht bezeichnete Erkrankung war zur Zeit der Handlung sehr stark verbreitet und forderte viele Todesopfer. Die im Plot beschriebenen Aufenthalte in einer Lungenheilanstalt sowie die ausgeführten Begriffe zur Pneumolyse, der sich Hanne unterziehen musste, hat Felicitas Fuchs so realistisch nachzeichnen können, weil sie die Informationen aus erster Hand von ihrer Mutter bekam. Tatsächlich hat es auch das erwähnte „Lübecker Impfunglück“ gegeben, das zum Tod vieler Säuglinge führte, weil ihnen ein verunreinigter Impfstoff verabreicht wurde.

Man muss den ersten Band der Trilogie nicht kennen, um von Anfang an von der Geschichte fasziniert zu sein. In dem Zusammenhang ist interessant, dass Minna und Fritz die Großeltern und Karl der Großonkel von Felicitas Fuchs waren. In flüssigem Schreibstil nimmt sie ihre Leser mit auf eine drei Jahrzehnte umfassende Reise, auf der sich die Protagonisten immer wieder neuen Herausforderungen stellen und Schicksalsschläge meistern müssen. Wer jedoch auf die Auflösung des Rätsels gehofft hat, zu welcher geheimen Vereinbarung sich Minna hat hinreißen lassen, der wird enttäuscht und muss sich bis zur Fortsetzung gedulden.

Hanne – Die Leute gucken schon von Felicitas Fuchs

Hanne - Die Leute gucken schon
Heyne Verlag 2023
Klappenbroschur
608 Seiten
ISBN 978-3-453-42620-7

Bildquelle: Heyne Verlag


Teile diesen Beitrag