Mit sechsundzwanzig Jahren lebt Hedwig noch immer bei ihren Eltern in einem Reihenhaus aus den 1960er Jahren am Rande von Innsbruck. Nachdem sie mit achtzehn Jahren die Matura erhalten hat, machte sie mehrere Praktika und hat kleine Jobs ausprobiert. Ihre letzte Anstellung in einer Kunstgalerie musste sie schweren Herzens kündigen, weil ihre Eltern von ihr mehr Unterstützung im Haushalt erwarteten. Seit Jahren ist es ihr größter Wunsch Künstlerin zu werden und ein Kunststudium in Wien zu absolvieren, denn Zeichnen ist ihre Leidenschaft. Doch hat sie sich bisher nicht getraut, ihren Traum zu verwirklichen, denn dafür müsste sie, wie ihr älterer Bruder Franz, das Elternhaus verlassen und nach Wien ziehen. Sie vermisst ihren Bruder, der sich nach seinem Auszug vor einigen Jahren nicht mehr gemeldet hat, und hofft, dass er eines Tages zurückkehren wird.
Nachdem Hedwig allen Mut zusammen genommen und sich für ein Studium an der Kunsthochschule in Wien beworben hat, erhält sie eine Zusage für das Studium. In ihrer ersten Begeisterung möchte sie den Eltern von ihrer erfolgreichen Bewerbung erzählen. Doch traut sie sich nicht, dem Vater davon zu berichten, denn sie glaubt, er sei der Meinung, dass Künstlerin ein zu unsicherer Beruf ohne festes Gehalt ist. Seitdem die Mutter erkrankt ist, muss er die gesamte Hausarbeit und die Einkäufe alleine erledigen, deshalb möchte Hedwig die Eltern nicht alleine lassen und gerät dadurch in einen Gewissenskonflikt. Durch einen Zufall endeckt sie in der Küche ein Versteck mit alten Briefen, aus denen hervorgeht, dass ihr Vater eine Geliebte hatte und seine Frau verlassen wollte, doch wegen der Kinder bei der Familie geblieben ist. Zum ersten mal fällt Hedwig auf, wie schmuddelig die Küche ist und entdeckt einen Riss in der Wand.
In dem Roman „Der Riss in der Wand“ hat sich die Protagonistin Hedwig eine imaginäre Welt geschaffen, in der ihr alles viel freundlicher und schöner erscheint als die Wirklichkeit. Sie ist in einer Welt gefangen, die sie für sich selbst erschaffen hat. Von ihrem Bruder Franz fühlt sie sich verlassen, denn von ihren Eltern erfährt sie keinerlei Zuneigung. Der Vater ist verbittert, und ihre Mutter ist in die Fernsehwelt der „Seifenopern“ geflüchtet. Ihre einzige Freude ist das Zeichnen und sie wünscht sich eine vielseitige Ausbildung. Aber ihre Traumwelt bekommt nach und nach immer mehr Risse, um sie herum geschehen rätselhafte Dinge und seltsame Veränderungen. Plötzlich verschwinden Gegenstände und tauchen an anderer Stelle wieder auf. Sie verspürt die Anwesenheit einer unsichtbaren Kraft. Während sie den Phänomenen auf den Grund geht, erkennt sie, dass ihre eigenen Ängste der Auslöser für die mystischen Ereignisse sind.
Ina Maschner hat ihren Roman „Der Riss in der Wand“ in mehrere Kapitel unterteilt, die mit aussagekräftigen Überschriften versehen sind und an einigen Stellen durch Rückblicke in die Vorgeschichte unterbrochen werden. Geschickt hat die Autorin einige Metaphern eingesetzt, um den inneren seelischen Konflikt der Protagonistin besser zu verdeutlichen. Hedwig möchte gerne die Kunsthochschule in Wien besuchen, hat aber Schuldgefühle gegenüber den Eltern und Angst vor einer ungewissen Zukunft. Im ehemaligen Zimmer ihres Bruders entdeckt sie eine Pflanze mit einem kleinen frischen Trieb, ein Pflänzchen der Hoffnung, das sie liebevoll pflegt. Sie ist gefangen im elterlichen Haus, das der Vater verschlossen hat, doch dieses Haus bekommt Risse, und eines Tages findet sie einen Schlüssel, mit dem sie sich aus ihrer inneren Gefangenschaft befreien kann. Mit diesen und ähnlichen Szenen sorgt der geniale Plot immer wieder für Aha-Effekte beim Leser, der bei der Lektüre eine Achterbahnfahrt der Empfindungen durchlebt. Der Roman von Ina Maschner ist ein Leseerlebnis, das noch lange nachbrennt.
Der Riss in der Wand von Ina Maschner
Diederichs Verlag 2024
Hardcover mit Schutzumschlag
176 Seiten
ISBN 978-3-424-35131-6