Der bei einer Zeitarbeitsfirma angestellte Yann hängt in Elisabeth Filhols Roman „Der Reaktor“ seinen Erinnerungen nach. Er denkt an seinen Freund Loïc, mit dem er sechs Jahre zusammen gearbeitet hat. Immer zu wechselnden Arbeitseinsätzen in Frankreich, immer mit der Angst im Nacken, immer von quälenden Träumen verfolgt: Werde ich zu denen gehören, die die gesetzlich erlaubte Höchstgrenze von 20 Millisievert erreichen? Bekomme ich die Dosis schon bei einem einzigen gefährlichen Einsatz ab, oder hoffentlich erst nach und nach? Eigentlich muss es mich ja gar nicht treffen, es sind ja nur statistische Berechnungen…
Yann teilt sich heute für einen 3-wöchigen Arbeitseinsatz mit Jean-Yves einen Wohnwagen. Yann selbst hatte Pech und es kam bei einem Einsatz in Chinon, der nur sechs Minuten dauern sollte, zu einem Störfall. Während einer Reinigung eines Dampferzeugers entdeckte er am Boden des Wasserkastens ein Teil, das später als Sicherheitsscheibe einer Mutter identifiziert wird. Seine Handlungen sind zur Routine geworden, er überlegt nicht mehr. Und so bückte sich Yann und griff nach dem Teil. Am Abend saß er bei einem Bierchen und merkte, wie ihm die Beine versagten. Nun sitzt er einem Arzt gegenüber, der nicht einmal in der Lage ist, die exakte abbekommene Strahlendosis zu bestimmen. In einem Simulator soll der Störfall nachgestellt werden. Der Schutzanzug Mururoa kann zwar die Kontamination verhindern, aber nicht vor der Strahlung schützen. Yann ist wegen der überschrittenen Höchstdosis nun zu einer zwölfmonatigen Pause verpflichtet und auf der Suche nach einem neuen Job. Er könnte eine Schulung zum Strahlenschutz machen, doch nur auf eigene Kosten. Jean-Yves, sein Wohnwagen-Mitbewohner, kündigt seinen Arbeitsplatz. Er verabschiedet sich von Yann und wählt auf der Landstraße den Freitod. Damit gehört er wie Loïc zu den drei Selbstmördern unter den Arbeitern, die in den letzten sechs Monaten gezählt wurden.
In „Der Reaktor“ von Elisabeth Filhol erfährt der Leser in Form einer Ich-Erzählung vom Selbstmord dreier Mitarbeiter eines Atomkraftwerkes. Mit dem Protagonisten Yann kann sich der Leser nicht identifizieren, weil er über ihn nichts erfährt. Er bleibt anonym und ist Stellvertreter für viele Zeitarbeiter. Yann berichtet von dem trostlosen Alltag der Schichtarbeiter und dass ein Atomkraftwerk von außen doch eigentlich ein friedlicher Ort ist, der nichts Beunruhigendes an sich hat.
Die Autorin schreibt in langen Sätzen, wie eine Kette aneinander gereihter Gedanken. Die Angst, die der Störfall bei Yann ausgelöst hat, wird durch die Kälte der Metallmöbel noch unterstrichen. Wie wenig ein Menschenleben zählt, vergleicht Elisabeth Filhol mit dem Krieg, wo auch sofort für Ersatz gesorgt wird. Ausführlich erfährt der Leser, was überhaupt genau in einem Atomkraftwerk geschieht und es wird fast minutiös der Störfall vom 25. April 1986 in Tschernobyl nachgezeichnet. Die Autorin wagt auch einen ironischen Ton, wenn sie sagt, dass die sowjetische Technologie der westlichen überlegen ist. Denn dort kann innerhalb weniger Stunden nicht nur der zivile Bedarf an Plutonium gedeckt werden, sondern auch waffenfähiges Material bereitgestellt werden. Zu loben sind die umfangreichen Recherchen zu diesem Thema. Vor dem Hintergrund der neuerlichen Katastrophe in Fukushima ist der aktuelle und interessante Roman „Der Reaktor“ von Elisabeth Filhol, den man innerhalb kürzester Zeit lesen kann, nicht nur Naturwissenschaftlern zu empfehlen.
Der Reaktor von Elisabeth Filhol
Edition Nautilus 2011
Gebunden mit Schutzumschlag
128 Seiten
ISBN 978-3-89401-740-8