Es gibt Dinge, die die menschliche Vorstellungskraft übersteigen. Dazu gehört, was Thomas Breuer für seinen Thriller „Der letzte Prozess“ recherchiert hat, denn der Plot vereinigt eine fiktive Handlung, in der Kriminalisten einen Mord aufdecken, mit Verbrechen des Dritten Reiches. Das Ineinandergreifen und Verschmelzen dieser beiden Stränge wird schon zu Beginn deutlich, als es um das historisch belegte Verfahren gegen den früheren SS-Wachmann Reinhold Hanning vor dem Landgericht Detmold im Jahr 2016 geht. Dem Verfahren, bei dem sich der Autor den öffentlich zugänglichen Protokollen bedient hat, wohnt die Romanfigur des Journalisten Fabian Heller zwecks Berichterstattung bei.
Unterdessen wird Hauptkommissar Stefan Lenz neuer Leiter der Paderborner Kreispolizeibehörde und bereits bei Amtsantritt mit einer in Wewelsberg aufgefundenen Leiche konfrontiert, die seine Kollegen wegen der grausamen Zurichtung schockiert hat. Die Obduktion ergibt, dass der Tote zuvor misshandelt und ausgepeitscht wurde, bevor ihm mit einem Felsbrocken der Schädel eingeschlagen wurde. Als Anton Kottmann von einer Seniorenresidenz als vermisst gemeldet wird, bestätigt ein DNA-Abgleich, dass es sich bei dem Toten um den Bewohner handelt. Stefan Lenz und seine Kollegin Gina Gladow stoßen in der Seniorenresidenz auf eine Nazi-Vergangenheit des Opfers, das seinen Dienst in einem Konzentrationslager, ganz in der Nähe des Leichenfundortes, versehen hat. Von der Leiterin erfahren sie zu ihrem Entsetzen, dass im Trakt B ausschließlich ehemalige Nazi-Verbrecher untergebracht sind, so dass sich ihnen die Frage aufdrängt, ob der Mord mit der Vergangenheit des Ermordeten zusammenhängen kann. Sie vernehmen die Pfleger Mario und Wolfgang und besuchen den Historiker Dr. Elling, der die Leiche gefunden hat, um mehr über die Geschehnisse während der NS-Zeit zu erfahren.
Zufällig begegnet Stefan Lenz seinem früheren Klassenkameraden Fabian Heller und ist erstaunt, dass auch der sich für den Mordfall interessiert. Dann wird eine weitere Bewohnerin der Residenz vermisst, und die Ermittlungen konzentrieren sich zunehmend im Umfeld der Pfleger, wobei von Mario bekannt ist, dass er gegen Nazis demonstriert hat. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, wenn es keine weiteren Toten geben soll.
Der Thriller „Der letzte Prozess“ wechselt zwischen der Ermittlungsarbeit, bei der die Paderborner Kriminalisten einen Mord aufzudecken haben, mit der realen Verhandlung, bei der Thomas Breuer auch die Aussagen der wenigen Überlebenden und weit angereisten Zeugen dokumentiert, sowie mit einem Briefwechsel zwischen einer KZ-Aufsichtsperson und seiner Ehefrau. Letzterer macht den Widerspruch zwischen einem treusorgenden und liebevollen Ehemann und Familienvater mit der Gefühlskälte und grausamen Härte gegenüber den Häftlingen deutlich, die bis aufs Blut gequält und mit Tieren verglichen wurden. Unter die Haut gehen die Schilderungen der an Zivilisten verübten Massaker der Deutschen, und der Autor macht deutlich, dass viele Nazis der gerechten Strafe wegen einer zu milde urteilenden Justiz entgehen konnten. Er greift die Bedeutung einer Korrektur in der deutschen Rechtsprechung auf, für die John Demjanjuk in Ausführung seiner Tätigkeit im Vernichtungslager Sobidor den Anstoß gab und schließlich mit der Verurteilung von SS-Unterscharführer Oscar Gröning endlich auch jemand einer Strafe zugeführt wurde, dem keine direkte Beteiligung an den Morden nachgewiesen werden konnte.
Thomas Breuer hat umfangreiche und weit gestreute Recherchen für seinen Thriller „Der letzte Prozess“ betrieben. Ob es sich um Ottens Hof in Büren-Wewelsburg handelt, der als Dorfgemeinschaftshaus der Nationalsozialisten fungierte und 2017 versteigert wurde, um die in jüngster Zeit aufkommende Identitäre Bewegung oder um die Entstehung des Nazi-Symbols, wobei ihm seine zeitgeschichtliche Lehrtätigkeit sicher eine Hilfe war. Er unterzieht die aktuelle Flüchtlingspolitik einer kritischen Betrachtung und wirft die Frage auf, was eigentlich Gerechtigkeit ist.
Trotz der schwer zu verdauenden historischen Geschehnisse ist Thomas Breuer der Balanceakt gelungen, durch Einschübe, die das Privatleben seines Protagonisten betreffen, den Leser auch auf amüsante Art zu unterhalten. Stefan Lenz liebt nämlich den Schlagabtausch mit seiner attraktiven Kollegin und dem Journalisten. Obwohl man den charakterstarken Lenz seinen neuen Kollegen einfach „vor die Nase gesetzt“ hat und der erst mit allen „warm“ werden muss, duldet er keinen Widerspruch und bietet seinem Chef Paroli. Bedingt durch die detailgetreue Wiedergabe der Umgebung von Paderborn mit interessantem Lokalkolorit und einem in den Bann ziehenden Schreibstil ist der Leser immer mitten im Geschehen und sieht von der ersten bis zur letzten Seite dem weiteren Handlungsverlauf mit Spannung entgegen.