Auf welche Art man am besten ein wissenschaftliches Thema einer breiten Leserschaft präsentieren kann, mag sich Irene Matt gefragt haben. Thematisiert werden in ihrem Roman „Der Augenblick“ in erster Linie die Forschungen des Psychoanalytikers Fritz Riemann, der tiefenpsychologische Studien betrieb und sich mit den Grundformen der Angst auseinandersetzte, als auch jene von Carl Rogers, dem Begründer der klientenzentrierten Gesprächstherapie, die sie auf anschauliche Art vermittelt. Eine der in der Geschichte zu therapierenden Patientinnen ist Renate Weiss, die beim Joggen in Herrischried zufällig auf den sechs Monate alten Marcel stößt. Voller Entsetzen sieht sie in seine weit aufgerissenen Augen und drückt die Zudecke darauf. Seine Mutter, die übernächtigt neben dem Kind eingeschlafen ist, findet den Kinderwagen leer, ohne ihren Sohn vor.
Über einen Notruf alarmiert, trifft die Polizei am Tatort ein und nimmt sich der verstörten Mutter an, deren Säugling verschwunden ist. Zwei Tage später wird die Leiche von Marcel gefunden. Die Ermittlungen übernimmt Hauptkommissarin Alexandra Keller nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub und wendet sich sofort an ihren Ausbilder und Fallanalytiker Hermann Rau. Nach einem knappen Jahr müssen sie den ungelösten Fall zu den Akten legen. Erst viel später wird sich Renate Weiss während eines Gottesdienstes ihrer Tat bewusst und bittet einen Pfarrer, sie zur Mordkommission zu begleiten, wo sie ein Geständnis ablegt. Sie hat Glück, dass Hermann Rau zu diesem Zeitpunkt eine Studie plant und sie aus der Untersuchungshaft holt. Dafür bringt er Renate Weiss für ein Jahr in der Psychiatrie unter. Mit vier weiteren, traumatisierten Patienten muss sie an Gruppensitzungen teilnehmen sowie Tagebuchprotokolle führen.
Der Anfang des Romans „Der Augenblick“ von Irene Matt erinnert an einen Krimi, und erst mit dem Gespräch zwischen dem Therapeuten Hermann Rau und der Kommissarin Alexandra Keller über mögliche Therapieangebote in der Psychiatrie ändert der Plot seine Richtung. Die Sitzungsprotokolle und Tagebuchaufzeichnungen der Protagonistin geben über die Schicksale der Therapieteilnehmer und weiterer Bewohner Aufschluss. Renate Weiss, die immer noch keine Erklärung für ihre Tat hat, setzt sich in ihren Eintragungen mit ihrer Vergangenheit auseinander und kann die Ereignisse der Sitzungen gut reflektieren. Ihren Prozess der Selbstfindung, die tief in ihrem Unterbewusstsein verankert ist, hat die Autorin sehr gut herausgearbeitet.
Durch die ungewöhnlich spannend und interessant aufbereitete Darstellung der zu Therapierenden ist es der Autorin gelungen, einige chronologische Unstimmigkeiten zu kompensieren, die durch ein gutes Lektorat hätten vermieden werden können. So ganz nebenbei vermittelt sie allgemein gültige Regeln der Gesprächsführung wie das Unterlassen von Du-Botschaften oder wertenden Äußerungen. In flüssigem Schreibstil stellt Irene Matt, die selbst als Krisenseelsorgerin und Mediatorin ehrenamtlich tätig ist, authentische Lebensberichte vor, und es bleibt wohl ihr Geheimnis, ob sie Bezug zur Realität haben. Um beim Leser keine Eintönigkeit aufkommen zu lassen und sein Interesse am weiteren Verlauf des Plots beizubehalten, führt sie ihn immer wieder zu der Rahmenhandlung und damit auch dem Privatleben der Kommissarin und dem Therapieleiter zurück, womit der Roman „Der Augenblick“ beste Einblicke in die Welt von Straffälligen bietet, denen ein traumatisches Erlebnis zugrunde liegt.