Die Ära des Stummfilms und der Beginn des Tonfilms
Vor einhundert Jahren sorgte in den großen Filmtheatern noch ein Orchester für die musikalische Untermalung der Stummfilme. Bereits in den 1920er-Jahren gab es erste Tonfilmpassagen, bis sich der Tonfilm schließlich in den 1930er-Jahren durchsetzen konnte. Toni Kramer ist in dem Roman Die vergessene Freundin* von Rebecca Martin der Besitzer eines solchen Kinos – dem Odeon in Frankfurt.
Elly und Tonja: Eine ungewöhnliche Freundschaft
Als Tonis Freund mit seiner Familie im Jahr 1919 nach England ausreist, leidet Tonis eigenwillige, siebenjährige Tochter Elly sehr darunter, da sie dadurch Corbin, ihren einzigen Freund, verliert. Die Einsamkeit endet für Elly erst, als sie in der neuen Schülerin Tonja eine verlässliche Freundin findet. Allerdings sind Ellys wohlhabende Eltern mit dieser Verbindung nicht glücklich, denn Tonja stammt aus ärmlichen Verhältnissen: Ihr Vater ist an den Kriegsfolgen gestorben, die depressive Mutter spricht dem Alkohol zu und verlässt kaum das Haus. Doch Elly verteidigt ihre Freundin und erreicht, dass ihre Eltern Tonja unterstützen. Als Corbin Jahre später nach Frankfurt zurückkehrt und sich in Tonja verliebt, ändert sich das jedoch schlagartig.
Rückblick und Schweigen: Die Gegenwartsebene
Im Jahr 2013 beabsichtigt Alea, eine Nichte von Elly, zum 95. Jubiläum des Filmtheaters Odeon eine Festschrift herauszubringen. Zu diesem Zweck engagiert sie die Historikerin Carina. Diese soll sich mit Fingerspitzengefühl der nunmehr einhundertundeinsjährigen Zeitzeugin nähern, um von ihr mehr über die damalige Zeit zu erfahren. Doch Elly will von der Vergangenheit nichts mehr hören, begegnet Carina abweisend und verweigert das Gespräch. Carina glaubt den Grund dafür zu kennen, denn ihre Mutter, die früher selbst gerne im Odeon war, weiß von einem Unglück zu berichten. Besonders Jan, der wortkarge Bruder von Alea, mahnt Carina wiederholt zur Rücksichtnahme gegenüber seiner Tante.
Zwei Handlungsstränge – eine bewegende Geschichte
Rebecca Martin erzählt den Roman Die vergessene Freundin* in zwei Handlungssträngen. Bereits im Prolog wird deutlich, dass es zwischen Elly und Tonja zu einem Bruch gekommen ist: Tonja wirft ihrer Freundin vor, jemanden umgebracht zu haben. Die Autorin schildert das Leben der beiden ungleichen Freundinnen – der behütet aufgewachsenen und ängstlichen Elly sowie der forschen und abenteuerlustigen Tonja, die seit ihrem elften Lebensjahr für lange Zeit alles miteinander geteilt haben. Während Tonja sich um ihre undankbare Mutter kümmert, eine Ausbildung absolviert und sich in Corbin verliebt, steigt Elly zu einer gefragten Schauspielerin auf und trifft in Berlin auf Filmgrößen. Parallel dazu geht es um Carinas Bemühungen, die alt gewordene Elly dazu zu bewegen, über ihr vergangenes Leben zu sprechen.
Historische Bezüge und literarische Raffinesse
Mit einer, beziehungsweise zwei Liebesgeschichten greift die Autorin auf ein bewährtes erzählerisches Rezept zurück. Neben den Ausführungen zur Filmgeschichte, bei denen Rebecca Martin die Leserinnen und Leser in eine nahezu vergessene und bezaubernde Welt entführt, sind ihr auch kurze historische Verweise wichtig. Dazu zählen etwa der Untergang der Frankfurter Allgemeinen Versicherungs-AG im Jahr 1929, die Ermordung der Juden in den Konzentrationslagern, die nach dem Krieg nach Argentinien oder Chile geflohenen Verantwortlichen sowie der Prozess gegen Adolf Hitler, der als Putschist am 1. April 1924 einer Urteilsverkündung entgegensah.
Mit diesen, wenn auch nur kurzen Abstechern in die Historie – oder der bemerkenswerten Erinnerung an den „Laubfrosch“, ein nur mit vier PS ausgestattetes Automobil der Opelwerke in Rüsselsheim – erhält der Roman eine zusätzliche Tiefe. Der lebendige und interessante Schreibstil macht von Beginn an neugierig auf den weiteren Handlungsverlauf und verleiht dem Werk eine besondere literarische Qualität.
Die vergessene Freundin von Rebecca Martin
Diana Verlag 2019
Klappenbroschur
496 Seiten
ISBN 978-3-453-35884-3