Weil Philippine nicht mit dem Tierquäler Seppl verheiratet werden will, flüchtet sie aus der elterlichen Wohnung und kommt ausgehungert in Wien an. Sie freundet sich mit der erst vierzehnjährigen Grete an, wird vergewaltigt und hasst alle Freier. Ihre beste Freundin Grete überlebt das Kindbett nicht, was für Philippine ein schwerer Verlust ist. Verzweifelt bemüht sie sich um das Wohl des kleinen Jakob, das Einzige, was von Grete geblieben ist. Ihre Möglichkeiten sind begrenzt: Entweder sie geht ins Kloster, Hurenhaus, auf die Straße oder zieht Hosen an.
Philippine entscheidet sich für Rom, nennt sich fortan Philipp Moosleitner und darf, da sie sich den „Lehren des Äskulap verschrieben“ hat, als Mann Medizin studieren. Später verlässt sie Rom und nimmt im portugiesischen Coimbra als Philipp ein Studium der Kartografie auf. Sie begegnet Adam von Regensburg, dem sie ihr Geheimnis anvertraut. Im Mai 1776 flüchtet sie jedoch aus Angst vor dem Henker aus Coimbra und segelt unter dem Schutz von José ins Reich der Tartaren, ohne zu wissen, ob sie Adam je wiedersehen wird.
Clementine Skorpil zeichnet in ihrem historischen Roman Wo das Licht herkommt* das Leben einer Frau im 18. Jahrhundert auf eindrucksvolle Weise nach. Deren schicksalhaftes Leben war bereits vorherbestimmt, wenn „etwas Kleines zwischen den Beinen“ gefehlt hat. Allen Frauen wurde der Zugang zu den Studiensälen verweigert. Die Protagonistin, die in der Ich-Form berichtet, wurde als Mann verkleidet zwar zum Studium zugelassen, doch lebte sie immer in Angst vor einer Enttarnung, weil sie der Körperbau und Stimme verraten konnten und natürlich auch das Geblüt, wenn ein „verräterisches Rinnsal die Waden hinunterströmen“ ließ. Und selbst dann, wenn man wie Philippine durch eine List das erzwungene Herunterlassen der Hose verhindern konnte, blieb bei ihren Weggefährten ein Restzweifel und man mied den Umgang mit ihr.
Die Autorin schreibt von absurden Vorstellungen der Menschen zur damaligen Zeit, dass beispielsweise in Afrika geborene Kinder zunächst noch weiß sein sollten. Ein Zeitgenosse nimmt an, dass die in der Zukunft erbauten Automaten die Menschen nur noch „im Caféhaus sitzen und in den Himmel schauen“ lassen. Auch Philippine, alias Philipp, glaubt an die Zukunft der Automaten und plant den Bau eines Flugautomaten. Kritische Einblicke gewährt der Plot, wenn es der österreichischen Kaiserin an nichts fehlt, während ihr Volk darbt. Wie in der aktuellen Situation Nebenwirkungen einer Coronaimpfung diskutiert werden, mussten sich die Menschen im 18. Jahrhundert mit dem „Einimpfen“ gegen die Blattern, eher als Pocken bekannt, auseinandersetzen, denn diese Infektionskrankheit forderte unzählige Opfer.
Die von Eltern und Erziehern angeordneten Strafen waren drastisch und zogen, wie Clementine Skorpil schreibt, nicht selten schwerwiegende gesundheitliche Folgen nach sich. So musste auch die junge Philippine unter anderem eine Stunde auf einem knorrigen Ast knien. An anderer Stelle beschreibt die Autorin eine grausame Methode, bei der kräftige Erschütterungen des Kopfes den Menschen nicht nur zum Wahnsinn treiben konnten, sondern den zu Tode Geprügelten konnte das Gehirn durch die Nase entweichen.
Ohne Zweifel ist der Roman Wo das Licht herkommt* ein historisches Meisterwerk, für das die Autorin umfangreiche Recherchen bis hin zu Heshen, einem Beamten der Qing-Dynastie, dem die Protagonistin begegnet ist, betrieben hat. Selbst eine so unwirklich erscheinende, von Philippine gemachte Behauptung, Dr. van Swieten wäre mit dem Beweis der Nichtexistenz von Vampiren betraut gewesen, ist völlig korrekt, denn dieser bedeutende Arzt und Reformer des österreichischen Gesundheitswesens hat mit dieser Aufgabe einem Wunsch der Kaiserin entsprochen.
Der Leser kann die Chronologie der Ereignisse nur schwer einordnen, da sämtliche Rückblicke lediglich am Wechsel vom Präsens ins Präteritum erkannt werden können. Auch vermeidet die Autorin konkrete Erklärungen der Geschehnisse wie die Vergewaltigung, die aber dennoch eine unmissverständliche Deutung zulassen. Ein extrem anspruchsvoller historischer Roman auf hohem Niveau!
Wo das Licht herkommt von Clementine Skorpil
Leykam Verlag 2021
Hardcover mit Schutzumschlag
288 Seiten
ISBN 978-3-7011-8208-4