Ein junger Mann reist im Auftrag von Professor Lavie in seinen Heimatort zu seinem Großvater, um in dem Gebirgsdorf Weng die Überschneidungen des Lebensweges seiner Großeltern mit dem eines Literaten zu ergründen, der einen skandalträchtigen Roman über das Dorf geschrieben hat. Der junge Mann soll vor Ort alles schriftlich aufzeichnen, die Begegnungen und Gespräche sowie seine Gedanken und die Erzählungen seines Großvaters, der ihm von der Zeit des Krieges und den Einheimischen berichtet. Als ihn sein Enkel auf den Schriftsteller und dessen Roman anspricht, reagiert der Großvater empört und behauptet, das Buch würde nur Lügengeschichten enthalten. Um mehr über jenen Autor zu erfahren, holt der junge Mann Erkundigungen im örtlichen Museum ein. Er besucht Lesungen und eine Podiumsdiskussion, nimmt an einer Tagung teil, unternimmt Wanderungen und begleitet seinen Großvater immer wieder zum Gottesdienst. Außerdem trifft er auf seine Jugendliebe Julia, wobei er besonderes Interesse an dem Schicksal ihres in einem Armenhaus untergekommenen und später verschwundenen Urgroßvaters zeigt.
Schon die ersten vom Protagonisten geäußerten Sätze wirken befremdlich, in denen es um das Schreiben an sich geht und das mit „Hirnwichsen“, „tuberkulösen Aufzeichnungen“ oder Neugeborenen, denen beide Arme abgehackt werden, verglichen wird. Der Leser fragt sich, was ihn im weiteren Verlauf des Romans „Tau“ von Thomas Mulitzer erwartet. Im Folgenden kristallisiert sich jedoch eine Handlung heraus, in der ein in der Stadt lebender junger Mann und Ich-Erzähler, der Germanistik zumindest studiert hat, versucht, die Wurzeln seiner Herkunft zu ergründen. Mehr erfährt der Leser allerdings über den Protagonisten nicht, ebenso wenig über Professor Lavie oder sein Interesse an dem erteilten Auftrag.
Dass es sich bei dem Roman um eine Hommage an den von Thomas Bernhard 1963 veröffentlichten Roman „Frost“ handelt, geht lediglich aus dem Klappentext hervor. Mit diesem Hintergrundwissen und anschließender Recherche finden sich natürlich Parallelen. Beide Romane bestehen beispielsweise aus 27 Tagebucheinträgen, und im Mittelpunkt steht jeweils das Dorf Weng, bei dem es sich allem Anschein nach um die Gemeinde im Pongau handelt, die 1938 nach Goldegg eingemeindet wurde und die Heimat des Autors ist.
Ungewöhnlich ist der Wechsel von gewählter Ausdrucksweise und Umgangssprache, die nicht darin begründet ist, dass unterschiedliche Personen zu Wort kommen. Es finden sich unzählige, teilweise nur kurze kritische Anmerkungen, die von der Kirche bis über schlecht ausgerüstete Bergwanderer reichen. Thomas Mulitzer thematisiert die Armut der kolumbianischen Kaffeebauern, Unzucht mit Minderjährigen oder auch Zwangsprostitution junger Rumäninnen. Weiterhin schreibt er von Deserteuren im Zweiten Weltkrieg und den Grausamkeiten der Gestapo. Er gibt philosophische Einlagen zur Literatur zum Besten, vergleicht Arbeit mit einem Tausch von Zeit gegen Geld und sorgt für ein Schmunzeln bei Wortspielereien, wenn gefragt wird, ob ein Mann eher Böcke oder Schürzen jagt.
Der Roman „Tau“ von Thomas Mulitzer ist in jeder Hinsicht ein exzentrisches Werk oder „ein kleines Experiment“, wie in einem Artikel des österreichischen Lokalblatts meinbezirk.at zu lesen ist. Ein Roman, makaber, sarkastisch, tiefsinnig, zuweilen amüsant und gelegentlich auch mal irritierend, aber stets auf hohem, literarischem Niveau.
Tau von Thomas Mulitzer
Verlag Kremayr & Scheriau 2017
Hardcover mit Schutzumschlag
288 Seiten
ISBN 978-3-218-01080-1