Erbgut von Bettina Scheiflinger

ErbgutBettina Scheiflinger stellt in ihrem Debütroman „Erbgut“ drei scheinbar voneinander unabhängige Familien vor, deren Verflechtungen sich dem Leser erst im weiteren Handlungsverlauf, und selbst dann nur bruchstückhaft offenbaren. So wird die Ich-Erzählerin in verschiedenen Stadien ihres Lebens vorgestellt. Diese berichtet von ihrer älteren Schwester Anna, ihren beiden Wohnungen in Wien und der Schweiz, einer Liebe und der Sorge, dass sie die Gene ihrer an Krebs erkrankten Mutter geerbt haben könnte.

In einer anderen Familie steht Johanna im Vordergrund, die nach ihren Kindern Frieda und Inge während eines Bombenalarms im Krieg Arno zur Welt bringt. Ihr Ehemann Franz ist im britischen Gefangenenlager und als er heimkommt, ist er dem Jungen fremd. Dieser lernt ihn nur als gewalttätigen Vater kennen. Als Erwachsener zieht es Arno nach Beendigung seiner Ausbildung in die Welt. Zwischenzeitlich verstirbt Inge viel zu jung, Johannas Eltern, von denen sie einen Hof samt Wirtshaus geerbt hat, sagen ihr offen, dass sie Franz für einen Taugenichts halten. Nach dem Krieg werden die Eltern eines nachts unsanft auf Nimmerwiedersehen vom eigenen Hof verschleppt, und die stets freundliche und hilfsbereite Frieda macht ihrer Mutter Kummer.

Wie Johannas Geschichte, so gibt Bettina Scheiflinger auch die von Rosa im Erzählstil wieder: Ihre aus Italien stammende Mutter Sofia hat den Schweizer Emil geheiratet, weshalb sie von den Schweizern abwertend als Tschingg beschimpft wird, worunter sie sehr leidet. Ihr Leben wird von der Schwangerschaft an aufgerollt, wie sie im Krankenhaus Rosa zur Welt bringt, die später mit ihrer Schwester Maria die Musik der Beatles hört. Als sich Rosa verliebt und heiraten will, muss sie wegen eines Trauerfalls, ihr Cousin ist im Krieg gefallen, in einem schwarzen Kleid heiraten. Auch sie wird wie ihre Vorfahren wieder Kinder in die Welt setzen, wodurch sich der Kreis schließt.

Was den Roman „Erbgut“ so besonders macht ist der Umstand, dass kein Lebenslauf chronologisch aufgebaut ist. Der Leser muss aus dem Text schließen, in welchem Lebensabschnitt sich die Personen befinden, die von der Autorin im Wechsel thematisiert werden. Sie hat quasi die zeitlich aufeinander abgestimmten Lebensereignisse ihrer Handlungspersonen wie ein Puzzle zerteilt und diese Abschnitte dem Leser unsortiert in Kapiteln präsentiert, in denen er von einem Ertrinkungstod erfährt, wie der Fleischhauer eine Kundin als Nazischwein beschimpft, wie eine Mutter bei ihrer Tochter einen Schwangerschaftsabbruch erzwingt oder auch von der Liebe zweier Menschen, die zueinander finden und letztlich vor einer Scheidung stehen.

Bettina Scheiflinger macht ihre Leser gerade mit deren Nichtverstehen neugierig auf den weiteren Handlungsverlauf, da er unbedingt die Zusammenhänge begreifen will und irritiert ist, wenn eine erwachsene Person plötzlich ein kleines Kind ist. In einem Kapitel ist sie bereits verheiratet, dann wieder wird sie erst einmal flügge. Wenn sich unvorhergesehener Weise ein Name von einer in eine andere Familiengeschichte „verirrt“, die hier scheinbar nicht hingehört, vermutet der Leser zunächst einen Fehler, bis sich ihm der Zusammenhang erschließt. Mit dem häufig in kurzen Sätzen verfassten Roman und nur andeutungsweise gemachten Begebenheiten wagt die Autorin auf hohem Niveau eine Auseinandersetzung, wie Menschen mit all dem von ihren Vorfahren mitgegebenem, ererbtem Ballast umgehen und ihren eigenen Weg finden müssen.

Erbgut von Bettina Scheiflinger

Erbgut
Verlag Kremayr & Scheriau 2022
Hardcover mit Schutzumschlag
192 Seiten
ISBN 978-3-218-01329-1

Bildquelle: Verlag Kremayr & Scheriau
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