Ein jüdisches Familienschicksal zwischen Berlin und Basel 1933-1945
Das Buch «Spreche morgen Rolf»* gibt im Wesentlichen Briefe wieder, um deren Veröffentlichung Reinhard Frank testamentarisch seinen Nachlassverwalter Christian Brückner bat, einen Notar und Dozent der Universität Basel und ab 1991 zudem als außerordentlicher Professor für Privatrecht tätig. Reinhard Frank vertraute seinem Testamentsvollstrecker die an seine ehemals vermögende Mutter Hilde Frank, geb. Feldberg, geschriebenen Briefe an. Sein Wunsch war die Sichtung dieser Korrespondenz sowie die öffentliche Zugänglichkeit der von seiner Schwester Anita verfassten Berichte aus dem jüdischen Krankenhaus Berlin, die vermutlich als einzigartig gelten.
Christian Brückner setzt nach einer Einleitung im Jahr 1932 an, in dem Hilde gerade Witwe wurde, woraufhin sie in eine großzügige Villa eines Unidozenten zog, wovon eines der vielen abgebildeten Fotos zeugt. Einer ersten Fluchtwelle jüdischer Personen schloss sie sich nicht an, und erst zu spät bemühte sie sich um eine Emigration nach Palästina. Ein mehrstöckiges Modegeschäft in Hamburg sowie Grundbesitz musste im Jahr 1939 an Nichtjuden zwangsverkauft werden. Ihre beiden Kinder Anita und Reinhard wollte sie mit einem Transport nach England schicken, womit sie jedoch zwei Tage zu spät kam, woraufhin beide bei Pflegefamilien unterkamen. Sie selbst ehelichte einen Schweizer und konnte so zwar in die Schweiz einreisen, doch ihre zweite Ehe brachte ihr kein Glück.
Anita begann eine Ausbildung zur Krankenschwester und schrieb in ihren Briefen an die Mutter von ihrer Liebe zu Rolf, den sie allerdings nur sehr selten nach erschöpfter Arbeit sehen konnte. Ihr im Jahr 1941 bestandenes Examen galt allerdings nur für die „Pflege von Juden oder in jüdischen Anstalten“. Hilde bemühte sich aus Basel um eine Einreisegenehmigung für ihre beiden Kinder, doch auch diese konnte wegen der Schließung der Grenze nicht umgesetzt werden. Im März 1942 wurde Rolf verhaftet und kam ins Gefängnis nach Spandau. Vier Monate später folgte die Deportation und schließlich kam er in ein Lager bei Danzig, wo er kurz vor Kriegsende umkam.
Anitas Briefe machen ihre zunehmende Verzweiflung und Angst vor der eigenen Deportation deutlich. Als sie mit ihrem Bruder im Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert wird, hat sie die Hoffnung auf eine spätere Einreise in die Schweiz noch nicht aufgegeben. Vergeblich versuchte die Mutter noch, ihre Kinder freizukaufen. Als das Lager vor den heranrückenden Russen geräumt wurde, kam der siebzehnjährige Reinhard in das Außenlager Gleiwitz III von Auschwitz, von wo aus ihm im Januar 1945 die Flucht gelang. Anita wurde im April 1945 Opfer einer Typhusepidemie, wie eine Lagerinsassin eidesstattlich erklärte. Die Mutter starb vier Monate später an den Folgen zweier Operationen, ohne ihre Kinder jemals wiedergesehen zu haben.
In dem Buch wird die Wiedergabe aller Briefe in blauer Schrift dargestellt und teilweise sogar in der original handschriftlich verfassten Form abgedruckt, wobei die Inhalte durch einordnende Texte vom Herausgeber Christian Brückner eine Ergänzung finden. Zum besseren Verständnis geht dieser an den entsprechenden Textstellen sowohl auf den Kriegsverlauf als auch auf die von der Partei beschlossenen Gesetze ein. Wer meint, längst alles über den Holocaust zu wissen, wird in dem Buch eines Besseren belehrt, wie das Schicksal der ebenfalls nach Theresienstadt deportierten Ida Cohn verdeutlicht, bei dem es um „Heimeinkaufsverträge“ geht, „eine zynische Bemäntelung der Enteignung“, wie es Christian Brückner treffend umschreibt.
Um der Zensur zu entgehen, mussten die seinerzeit verfassten Schriften natürlich verschlüsselt werden. Sie bedürfen unbedingt einer Erklärung, was nur dadurch möglich ist, wenn sich jemand mit einem wachen Verstand, wie dem des Herausgebers, intensiv mit dem Thema beschäftigt hat. Ohne diese „Übersetzungen“ wüsste der Leser die Botschaften des Schreibers an den Adressaten kaum richtig einzuordnen. Der schon von Berufs wegen um Neutralität und Objektivität bemühte Christian Brückner hat mit dem Buch «Spreche morgen Rolf»* das Erbe des im Jahr 2010 verstorbenen Reinhard Frank sicherlich in seinem Sinne umgesetzt und damit ein weiteres wichtiges Zeitzeugnis geschaffen.
«Spreche morgen Rolf» von Christian Brückner (Hrsg.)
Christoph Merian Verlag 2025
Hardcover
224 Seiten
ISBN 978-3-03969-039-8