Sein Name war Annabel von Kathleen Winter

Sein Name war AnnabelHermaphroditismus oder in jüngster Zeit auch Intersexualität genannt, ist medizinisch eine beim Menschen äußerst seltene Sexualdifferenzierungsstörung, bei der sowohl männliche, wie auch weibliche Geschlechtsmerkmale vorhanden sind. Noch vor gar nicht so langer Zeit durften sich die Eltern nach der Geburt für ein Geschlecht entscheiden, was für das Kind neben einer Operation auch eine lebenslange Hormoneinnahme zur Folge hatte. Kathleen Winter zeichnet in ihrem Roman „Sein Name war Annabel“ den Lebensweg eines solchen Menschen in sehr eindringlicher Form nach:

In dem kleinen Dorf Croydon Harbour an der Südküste Labradors in Kanada wird im Jahr 1968 Wayne Blake geboren. Es ist eine Hausgeburt, bei der auch Thomasina Baikie hilft. Sie sieht bei dem Neugeborenen nicht nur einen Hoden, sondern auch Schamlippen und eine Vagina. Während die Mutter Jacinta durchaus mädchenhafte Züge in dem Säugling sieht, entscheidet ihr Ehemann Treadway, dass es ein Junge sein soll. Sie stellen ihren Sohn einem Chirurgen vor, der ihnen anhand eines Phallometers erklärt, dass der Phallus von Wayne über eineinhalb Zentimeter misst, was anstelle einer Klitoris für einen Penis spricht. So will er in einer Operation eine „glaubwürdige maskuline Anatomie herstellen“.

Doch zum Leidwesen seines fürsorglichen Vaters entwickelt sich Wayne nicht so, wie er das möchte. Der Junge kann seine Liebe zur Wildnis nicht teilen, liebäugelt mit einem Badeanzug und begeistert sich für das Synchronschwimmen, ausgerechnet eine den Frauen vorbehaltene Disziplin. Seine einzige Freundin ist Wally Michelin, mit der er eine Brücke nach dem Vorbild der Ponte Vecchio in Florenz baut, doch kann Treadway für das mädchenhafte Verhalten der beiden beim Aufbau kein Verständnis aufbringen. Als Wayne zwölf Jahre alt ist, hinterfragt er seine Behandlung mit Tabletten und Spritzen. Außer den Eltern und Thomasina kennt niemand sein Geheimnis. Eines Tages werden seine Bauchschmerzen immer schlimmer und Thomasina, die ihm heimlich den Namen ihrer verstorbenen Tochter Annabel gegeben hat, fährt mit ihm ins Krankenhaus.

Der Protagonist in dem Roman „Sein Name war Annabel“ ist auf der Suche nach seiner Identität und lebt in ständiger Angst vor der Entdeckung seines Geschlechtes. Die Furcht ist besonders bei Gracie groß, mit der er auf dem Abschlussball tanzt, weil sie sich für klinische Pharmakologie interessiert. Sehnsüchtig betrachtet der Heranwachsende schöne Kleider sowie geschmeidige Stoffe und beobachtet sich beim Tanzen alleine vor dem Spiegel. Von allem fühlt er sich ausgeschlossen, hat keine Freunde und weiß nicht wo er hingehört. Lediglich die Freundschaft zu Wally, die von einer Karriere als Opernsängerin träumt und deren Stimmbänder zu ihrem großen Bedauern auf einer Party verletzt wurden, hat Bestand.

Kathleen Winter ist selbst in Neufundland und Labrador aufgewachsen und kann deshalb vom Leben der Bewohner schreiben, was ihr in ihrem Roman auch auf sehr einfühlsame Weise gelungen ist. In Kanada, wo die Sommer nur von kurzer Dauer sind, leben die Menschen im Gegensatz zu einem Bewohner in der Stadt noch viel mehr mit der Natur und respektieren diese vor allen Dingen auch. Der Waldarbeiter und Fallensteller Treadway findet selbst von Stellen im Wald nach Hause, an denen er zuvor noch nie war, denn wenn er die vom Wind geformten Baumwipfel beobachtet, zeigen die ihm wie auch die Fließrichtung des Baches den Heimweg an. Die bewegende Geschichte nimmt eine nicht vorhersehbare Richtung und dank der immensen Erzählkunst von Kathleen Winter kommt der Plot mit wenig wörtlicher Rede aus.

Sein Name war Annabel von Kathleen Winter

Sein Name war Annabel
Übersetzng von Elke Link
btb Verlag 2021
Hardcover mit Schutzumschlag
448 Seiten
ISBN 978-3-442-75772-5

Bildquelle: btb Verlag
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