Ein Neujahrsmoment als Auslöser für Selbstreflexion
In ihrem Buch Ideale* begibt sich Julia Friedrichs auf die Suche nach Menschen, die ihren Werten und Überzeugungen treu geblieben sind – und das vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung. Der zündende Gedanke entsteht in einer Silvesternacht, als die Autorin auf ihren schlafenden Sohn blickt und ihn in eine düstere Zukunft denkt: ölverschmutzte Meere, Plastikmüll, Trash-TV.
Die Frage, warum sie selbst nichts gegen die drohende gesellschaftliche Entwicklung unternimmt, bringt sie zum Nachdenken. Mit einer Liste von Dingen, die sie verändern will, beginnt ihre Recherche: ein persönlicher Aufruf zum Handeln und zur Selbstverantwortung.
Begegnungen mit einstigen und heutigen Idealist:innen
Auf der Suche nach überzeugten Idealist:innen stößt Friedrichs auf viele Absagen – darunter von Alice Schwarzer, Joschka Fischer und Karl-Theodor zu Guttenberg. Doch sie trifft auch prägende Persönlichkeiten:
- Gerhard Schröder spricht mit ihr über gesellschaftlichen Wandel, bleibt jedoch widersprüchlich in seiner Haltung
- Rezzo Schlauch, einst überzeugter Anhänger von Rudi Dutschke, weicht kritischen Fragen aus
- Ingo Schulze hingegen beweist bei einer Preisverleihung Mut und Kritikfähigkeit – ein Beispiel für konsequente Haltung
- Günter Grass äußert sich offen zu seiner SS-Vergangenheit und reflektiert über Träume, Solidarität und den Verlust gesellschaftlicher Visionen
Zwischen Cayman Islands und Gleisbarrikaden – Vielfalt der Überzeugung
Ihre Reise führt Friedrichs bis auf die Cayman-Inseln, wo sie Karsten Schröder trifft. Weitere Gespräche mit Persönlichkeiten wie:
- Peter Hartz – unverbesserlicher Idealist trotz umstrittener Vergangenheit
- Frank Krings – Bankier mit harter Kritik an der Leistungsgesellschaft
- Mojtaba – dessen offene Kritik ihn beruflich zurückgeworfen hat
Besonders berührend sind die Begegnungen mit:
- einer Chirurgin, die sich aufopferungsvoll für Unfallopfer einsetzt
- einer Erzieherin, die soziale Herkunft ihrer Schützlinge ignoriert
- einem jungen Mädchen, das sich aus Protest gegen Kriegsmaterial auf Gleise setzt
Diese Menschen gehören zu einer Minderheit, die ihren Überzeugungen folgt – oft auf Kosten von Privatleben und Komfort, wie etwa Sven Giegold zeigt.
Stilistische Stärke mit persönlicher Note
Julia Friedrichs verbindet Fakten, persönliche Gedanken, Ironie und Provokation auf kluge Weise. Die Einschübe über die Entwicklung ihres Sohnes wirken authentisch und sympathisch.
Ihr Stil ist teils bissig, oft pointiert – eine Mischung aus journalistischer Schärfe und persönlicher Nahbarkeit. Auch überraschende Exkurse, etwa zu den Ursachen des Challenger-Absturzes 1986, fügen sich als Gedankensprünge ins Gesamtbild.
Fazit: Aufruf zur Haltung – jenseits von Bequemlichkeit
Ideale* ist ein engagiertes Buch über Menschen, die noch an Werte glauben – und über die Frage, was wir selbst tun können. Es liefert Denkanstöße für Leser:innen, die sich mit gesellschaftlichem Wandel, Aufrichtigkeit und gelebter Verantwortung beschäftigen wollen.
Ideale von Julia Friedrichs
Hoffmann und Campe 2011
Hardcover mit Schutzumschlag
272 Seiten
ISBN 978-3-455-50187-2