Wenn sich jemand nicht mehr an das Geschehen vor einem ganz speziellen, zumeist traumatischen Ereignis erinnern kann, sprechen Mediziner von einer retrograden Amnesie. Darunter leidet in dem Roman Fremdes Leben eine Frau, die unter anderem mit schweren Schädelverletzungen nach einem Autounfall in die Universitätsklinik Köln eingeliefert wird. Auf Wunsch ihres Ehemanns wird sie in eine private Klinik verlegt und dort für die nächsten eineinhalb Jahre in ein künstliches Koma versetzt. Nach einem Problem mit ihrer Beatmung wird die Frau in ein Krankenhaus überführt, wo sie zur Überraschung aller nach neun Tagen das Bewusstsein wiedererlangt. Von der behandelnden Ärztin Dr. Scheuer erfährt sie, dass sie Claudia Beermann heißt, was sie jedoch bestreitet, denn sie glaubt, Cilly Castrup zu sein. Außerdem, so erklärt ihr die Ärztin, soll sie sich in der privaten Pflegestelle eine die Atmung erleichternde Trachealkanüle selbst herausgerissen haben. Dr. Scheuer zeigt sich verwundert, dass ihre Patientin mit den medizinischen Fachbegriffen offensichtlich vertraut ist und lässt sich davon überzeugen, dass sie zu dieser Handlung kaum in der Lage gewesen sein kann.
Die sich für Cilly haltende Frau erinnert sich immer wieder an eine Fahrt zu einem Steinbruch und die Worte „Mach sie tot!“. Als sie der Ärztin gegenüber ihren Verdacht äußert, dass es sich bei dem Unfall um einen Mordversuch gehandelt haben muss, verweist die zunächst auf Erinnerungstrübungen. Doch schließlich kommen ihr selbst Zweifel und aus Sicherheitsgründen ordnet sie die weitere Behandlung auf der Intensivstation an. Als ein junger Mann die Patientin besucht, der sich als ihr Sohn vorstellt, muss sie wohl glauben, tatsächlich Claudia Beermann zu sein, was durch den Besuch ihres Ehemannes Carsten noch bekräftigt wird. In Gesprächen erfährt sie, dass sie weder eine gute Mutter, noch eine treue Ehefrau gewesen sein soll. Seit sieben Jahren lebt sie bereits von ihrem Mann getrennt, der mit Manuela Baars eine gemeinsame Tochter hat.
Nachdem sich Dr. Scheuer mit Erika Koch von der Privatklinik unterhalten hat, der man lediglich vorwerfen kann, die Patientin fast verhungert haben zu lassen, findet Claudia in dem Therapeuten Reuther von der Reha-Klinik einen weiteren verständnisvollen und hilfsbereiten Unterstützer. Mit seiner Hilfe füllen sich ihre Erinnerungslücken zunehmend. Einerseits belastet sie, vor ihrem Unfall viele Menschen ins Unglück gestürzt zu haben, was sie aus ihren Träumen ableitet. Andererseits weiß sie nicht, wem sie trauen kann und sie hat das Gefühl, verfolgt zu werden, um sie letztendlich doch noch aus dem Weg zu schaffen.
Petra Hammesfahr beginnt ihren Roman Fremdes Leben mit dem Aufwachen aus der Bewusstlosigkeit ihrer Protagonistin und erzählt in Rückblicken ihre Erinnerungen an den Unfallhergang sowie traumatische Ereignisse, die sich im Leben von Claudia Beermann während ihrer Kindheit ereigneten. Für den Leser ist zunächst völlig unverständlich, wie sich Claudia zum einen an einen Unfall erinnert, der sich nach einer Feier zugetragen haben soll, zum anderen aber an eine Autofahrt mit ihrem Mann, der sie in einen Steinbruch führt, wobei sie diesen Unfall aus zwei Perspektiven vor sich sieht: Einmal versucht sie verzweifelt, als Insassin den drohenden Absturz zu verhindern, ein anderes Mal sieht sie von oben herab auf das sich dem Abgrund nähernde Auto.
Da bereits nach den ersten achtzig Seiten mit dem Besuch des Sohnes von Claudia klar wird, dass sie nicht Cilly ist und demnach keine Verwechslung vorliegt, wird sich mancher Leser die Frage stellen, was jetzt noch für Spannung in dem immerhin fast fünfhundert Seiten starken Roman sorgen kann. Dass Claudia immer wieder von neuem und wiederholt ihre Erinnerungsfetzen wie ein Puzzle zusammensetzt und ausführlich ihre Träume geschildert werden, lässt den Spannungsbogen zeitweise abreißen und beim Leser Ungeduld aufkommen. Aber die analytische Denkweise der Protagonistin, die in akribischen Überlegungen die Aussagen ihres Ehemannes quasi seziert, machen das wieder wett. Petra Hammesfahr liefert mit ihrem Roman Fremdes Leben einen ausgeklügelten, raffinierten Plot, bei dem am Ende tatsächlich jeder scheinbare Widerspruch eine plausible Erklärung erfährt.