Jo Lendle zeichnet in seinem Roman Die Himmelsrichtungen* das Leben der am 2. Juli 1937 im Pazifik verschollenen Flugpionierin Amelia Earhart nach: In der Schule zieht sie sich zurück und ist lieber allein. Als sie die vom 1. Weltkrieg Verwundeten sieht, bricht sie das College ab und leistet freiwillig in einem Militärkrankenhaus Hilfe. Nach einem abgebrochenen Medizinstudium nimmt sie bei der Pilotin Neta Snook Flugstunden. Um die Kosten zu stemmen, nimmt Amelia Jobs an. In kürzester Zeit erwirbt sie die Pilotenlizenz und verlobt sich mit Samuel Chapman, kurz Sam. 1928 ist sie zwar nur mit an Bord eines von Wilmer Stultz gesteuerten Flugzeugs bei dem ersten Nonstop-Flug über den Atlantik, aber immerhin die erste Frau bei der in Irland endenden Überquerung.
Im Mai 1932 startet Amelia mit einer Lockheed Vega, ausgestattet nur mit Kompass und Uhr für die Navigation, zum ersten Alleinflug einer Frau über den Atlantik. Mit der Präsidentengattin Eleanor Roosevelt hat die bereits auf einige Rekorde blickende Amelia eine glühende Bewunderin. Nach der Gratulation zum Amtsantritt von Franklin Roosevelt gewährt dieser der jungen Pilotin die Bitte, seine Ehefrau für einen Rundflug entführen zu dürfen. Später übernimmt sie mit Gene die Vizepräsidentschaft einer Airway Corporation und streitet mit ihm darüber, dass Berufspilotinnen das Fliegen während der Menstruation versagt ist, angeblich „hormonell derangiert“.
Die emanzipierte junge Frau hält unermüdlich Vorträge, und den eifersüchtigen George Putnam, mit dem sie inzwischen verheiratet ist, muss sie täglich anrufen oder ihm telegrafieren. Während einer Ausstrahlung für die Wochenschau verkündet Amelia, dass sie beabsichtigt, den Erdball am Äquator zu umrunden, was bisher noch keine Frau gewagt hat. Für die Vorbereitung müssen an dreißig Orten Kraftstoff, Öl und Ersatzteile bereitstehen, wobei die Überquerung des Pazifiks die größte Herausforderung darstellt. Das kleine, zwischen Hawaii und Neuguinea gelegene Atoll Howland Island ist als letzter Zwischentopp zum Auftanken vorgesehen und soll per Funkpeilung angesteuert werden. Amelias Wahl fällt auf den Navigator Fred Noonan, deren Funksprüche auch tatsächlich von dem dort bereitstehenden Kutter Itasca aufgefangen werden. Doch wie die später auf der Startbahn entdeckte Funkempfangsantenne zeigt, können deren Signale an Bord des Flugzeugs nicht empfangen werden.
Für seinen Roman Die Himmelsrichtungen* konnte Jo Lendle auf die von Amelia Earhart verfassten Schriften und Logbücher sowie auf Überlieferungen zurückgreifen. Im ersten Ouverture genannten Kapitel startet die mutige, knapp Vierzigjährige in Oakland und nennt als Zwischenstationen Miami, Puerto Rico, Venezuela, die östliche Spitze von Brasilien, Senegal, das Rote Meer und Kalkutta, um schließlich von Neuguinea, wo die lebensrettende Antenne auf dem Rollfeld verbleibt, zum letzten, nie erreichten Zwischenstopp auf Howland Island zu starten. Trotz der größten Suchaktion in der Geschichte der Luftfahrt blieb sie verschollen. Ihre Aufzeichnungen geben interessante Details zur Navigation des Jahres 1937 preis: Während die Bestimmung der Geschwindigkeit an Land keine Probleme darstellte, fehlten über Wasser entsprechende Peilpunkte. Zum Ausgleich diente hinausgeworfenes Aluminiumpulver, das auf dem Meer einen glitzernden Fleck hinterließ. Nachts wurden Kanister mit Acetylen abgeworfen, die sich im Kontakt mit Wasser entzündeten.
Im weiteren Verlauf des Romans schreibt der Autor von Amelias Kindheit, ihren ersten Flugstunden, der Pilotenlizenz und Planung der Weltumrundung, jeweils in rückläufiger Reihenfolge. Warum er nicht chronologisch aufbauende Lebensstationen favorisiert hat, was dem Leser ein Verständnis wesentlich erleichtert hätte, bleibt sein Geheimnis. Dafür hat er amüsante Szenen in den Plot aufgenommen: Ein Student beklagte sich bei Amelia darüber, dass es schon ohne ihre emanzipatorischen Vorträge schwer genug wäre, ein Mädchen zur Hochzeit zu überreden. Oder auch der spontane Flug mit der First Lady im Satinkleid, der eigentlich nur von kurzer Dauer sein sollte, auf ihren ausdrücklichen „Befehl“ aber keine Rückkehr am selben Tag vorsah und letztlich den Präsidenten zu einer Notlüge an die Öffentlichkeit zwang, verspricht Lesevergnügen.
Der Roman macht deutlich, mit welchen Unwägbarkeiten Flugpioniere rechnen mussten. Regen ließ den Lack der Flügel platzen, nicht selten war es ein „Blindflug“ und wenn die Uhren wegen schlechter Funkverbindung nicht exakt gestellt werden konnten, was für die Navigation mit Sonne und Sternen erforderlich war, verfehlte man unweigerlich das Ziel. Ein interessanter Roman über eine erstaunlich eigenwillige Frau, der mit Fotos sicherlich noch eine Ergänzung erfahren hätte.
Die Himmelsrichtungen von Jo Lendle
Penguin Verlag 2024
Hardcover mit Schutzumschlag
256 Seiten
ISBN 978-3-328-60379-5