Bild ohne Mädchen von Sarah Elena Müller

Bild ohne MädchenDie Eltern des namenlosen Mädchens möchten nicht, dass ihre vor der Einschulung stehende Tochter zu Hause fernsieht, weil es nach Meinung der Mutter „dumm und traurig“ macht. Dafür darf sie beim Nachbarn fernsehen. Der Vater geht ganz in seiner Rolle als Biologe auf, rettet für seine Kunden Tiere und Pflanzen, so sieht es zumindest seine Tochter, und die Mutter ist in ihre Arbeit als Bildhauerin vertieft. Das Mädchen besucht häufig ihren medienliebenden Nachbarn Ege, der seine mit entsprechenden Geräten vollstehende Wohnung abdunkelt und in hohem Maße dem Wein zuspricht. Seine Lebenspartnerin Gisela lebt in der Wohnung darüber.

Eines Tages vertraut sich das Mädchen der Mutter an und berichtet ihr von einem Engel, den sie vielleicht bei den Nachbarn gesehen hat. Auf Rückfragen der Mutter gibt sie an, nichts Genaues zu wissen, da die Ränder verschwommen gewesen seien, woraufhin die Mutter ihr ein Buch über griechische Gottwesen aushändigt. Zudem scheint ihr außer der regelmäßigen Vorstellung bei einem Heiler, bei dem das Mädchen wegen Bettnässen in Behandlung ist, ein Besuch bei einem Augenarzt angebracht zu sein.

Sarah Elena Müller hat in ihrem Roman „Bild ohne Mädchen“ ihrer Protagonistin, die mit ihren Eltern irgendwo in den Schweizer Bergen lebt, keinen Namen gegeben. Schon zu Beginn spricht das Mädchen von einem „seltenen Engel“, der bei den Nachbarn leben würde. Mit diesem imaginären Engel führt sie Unterhaltungen, flüchtet mit ihm in ihre eigene Fantasiewelt. Ihre Eltern scheinen kein Problem mit dem Widerspruch zu haben, ihrer Tochter zu Hause den Fernseher zu verbieten, sie jedoch zum Nachbarn Ege gehen zu lassen, obwohl der ausschließlich in einer abgedunkelten Wohnung lebt, was an sich schon unheimlich oder zumindest befremdlich wirkt. Über Ege ist bekannt, dass er in Berlin eine Professur hatte und aus dieser Zeit einen Sohn hat, der ihn auch einmal in der Schweiz besucht. Das Mädchen lernt ihn bei dieser Gelegenheit kennen und fragt sich, ob Eges Sohn wohl auch von dem Engel weiß.

Über Gisela erfährt der Leser, dass sie zu Beginn der Freundschaft mit Ege noch „über das Entsetzen in den Gesichtern ihrer verklemmten Kameradinnen“ erfreut war, später jedoch „unter der Lust, die Ege ihnen beiden als Maßnahme gegen die bürgerliche Ordnung verschrieb, zu leiden begann“. Darüber hinaus wird deutlich, dass sie Ege vermutlich mit seinem Sohn als Statisten gefilmt hat. Denn an anderer Stelle ist zu lesen, dass Ege kein Interesse mehr an den alten Kassetten hat, da es ja jetzt „frische Bilder mit dem frischen Nachbarkind“ gibt. Um sich selbst von jeglicher Mitschuld freizusprechen, redet Gisela sich ein, dass das Nachbarmädchen, weil es inzwischen die Schule schwänzt und damit seine Eltern hinters Licht führt, selbst auch kein Engel sein kann und selbst Schuld an allem trägt.

Obwohl alle Sätze in dem Roman „Bild ohne Mädchen“ an sich verständlich sind, hat der Leser doch an vielen Aussagen zu knacken. Das Kind fühlt sich beispielsweise durch das begangene Blutopfer gestärkt, bei dem es die vernarbten Mückenstiche auf seinen Beinen aufkratzt und mit einem Taschentuch aufnimmt. „Das Geheimnis der Taschentücher darf niemals ans Licht kommen“, heißt es, was wohl in Richtung Missbrauch gedeutet werden muss. Zudem spielen die wiederholten Erwähnungen der Großeltern eine Rolle: Die Großmutter hatte bei der Heirat den Namen ihres Ehemannes annehmen müssen, sie „trägt die Markierung, die Etikette, den Ballast“. Bei so viel Unverständnis bleiben beim Leser eine Menge Fragen zurück. Er liest nur in der Hoffnung auf Antworten weiter. Doch wie Sarah Elena Müller in einem Interview bekennt, hat sie selbst erst nach sechs Jahren Arbeit an dem Text verstanden, „dass gesellschaftliche Umbrüche wie die sexuelle Befreiung der späten Sechziger nicht absolut waren…“ und heute Leerstellen schaffen, „an denen neue Machtgefälle Missbrauch zulassen…“ Der Roman ist ein gewagtes Experiment für Exzentriker.

Bild ohne Mädchen von Sarah Elena Müller

Bild ohne Mädchen
Limmat Verlag 2023
Hardcover mit Schutzumschlag
208 Seiten
ISBN 978-3-03926-051-5

Bildquelle: Limmat Verlag
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