Zerbrechliche Kindheit und familiärer Missbrauch
Maximilian Kramer kann nicht verstehen, warum sein Vater die Familie verlassen hat – und noch weniger, warum seine Mutter sich dem brutalen Conrad zuwendet. Mit acht Jahren wird er Zeuge ihres Liebesspiels, was den Unmut seines Stiefvaters weckt. Ein Schulaufsatz mit dem Titel „Meine schöne Welt“ verfehlt angeblich das Thema, und Maximilian erhält eine schlechte Note, woraufhin seine Mutter zur Schule zitiert wird. Diese Eskalation führt zu immer häufigeren und brutaleren Misshandlungen durch Conrad, die sich verschärfen, als Maximilian neun Jahre alt wird.
Eine Kinderleiche und albtraumhafte Begegnungen
Beim Spielen mit seinem Freund Leon findet Maximilian die Leiche eines Kindes – Hannes Kliem. Dieser mischt sich immer wieder in seine Träume ein. Als ihm bewusst wird, warum Hannes ihn geistig nicht loslässt, vertraut er sich einem Kommissar an. Die Gewalt des Stiefvaters eskaliert und wird zur ständigen Bedrohung.
Die Reise in eine mystische Schattenwelt
Maximilian erwacht in einer Welt ohne Licht und Klang. Seine Mutter antwortet ihm nicht. Verzweifelt verlässt er das Zuhause und begegnet dem Studenten Iwa, der behauptet, zusammengeschlagen worden zu sein. Dieser erklärt ihm, dass in dieser Welt alles ohne Konsequenz geschehe – nach dem Schlaf sei alles wieder wie zuvor. Schattenwesen und Tote lösen sich in Nichts auf. Inmitten dieser surrealen Ereignisse tritt ein selbst ernannter „Hirte der Welt“ auf und erzählt von der Geschichte Jesu. Er stellt Maximilian ein Rätsel, dessen Lösung ihm die Rückkehr ermöglichen soll.
Surrealismus trifft psychologische Tiefe
Tino Hemmanns Roman Misericordias Domini* ist ein surrealistisches Werk mit tiefgreifender Thematik. Erst auf den letzten Seiten des Epilogs wird dem Leser ein verbindender Kontext zwischen der realen und der fantastischen Welt eröffnet. Hemmann liefert bewusst weder zeitliche noch geografische Orientierung und lässt seine Figuren zwischen alltäglicher Realität und traumhaften Begegnungen pendeln.
Philosophie, Trauma und gesellschaftliche Botschaft
In Gesprächen mit Iwa philosophiert Maximilian über Dasein, Lebensphasen, Verstand und Erfahrung. Eine zentrale Aussage des Buches ist, dass von Erziehungsberechtigten verursachte Fehler lebenslange Folgen für Kinder haben. Hemmann will mit seinem ungewöhnlichen, aber vielschichtigen Roman auf Kinder aufmerksam machen, die hilflos Gewalt und Vernachlässigung ausgesetzt sind. Der Roman fordert Aufmerksamkeit – insbesondere für Erwachsene, die wie Maximilians Mutter wegsehen und weghören.
Misericordias Domini von Tino Hemmann
Engelsdorfer Verlag 2012
Taschenbuch
274 Seiten
ISBN 978-3-86268-827-2