Der seltsame Fremde – Zwischen Realität, Erinnerung und Paralleldasein

Eine literarische Analyse des Romans von Christian Haller

Buchcover des Romans Der seltsame Fremde

Einladung zu einer Reise ins Ungewisse

Der mit einer Astrophysikerin verheiratete Fotograf Clemens Lang erhält eine Einladung zu einem internationalen Kongress, bei dem er seine Arbeiten präsentieren und ein Portfolio zusammenstellen soll. Bereits am Flughafen begegnet ihm eine geheimnisvolle Figur, die sich selbst als „der seltsame Fremde“ bezeichnet und vorgibt, sein auserwählter Begleiter zu sein. Obwohl Clemens den Mann auf Mitte vierzig schätzt, behauptet dieser, bis 1916 Friedländer geheißen zu haben, von Beruf „Causeur“ gewesen zu sein und heute unter dem Namen Landers zu leben.

Der Fremde stellt Lang vor ein Rätsel: Er sagt zutreffend eine Flugverspätung voraus, erscheint immer wieder wie aus dem Nichts und verschwindet ebenso unbemerkt. Auch seine glimmenden Zigarren geben keinen Rauch ab – eine weitere irritierende Merkwürdigkeit. Schließlich entdeckt Lang ein mysteriöses „Büchlein der Halbwahrheiten“, das eine persönliche Widmung an ihn selbst enthält – datiert auf den ersten Kongresstag.

Zwischen Vergangenheit und Halluzination

Der Aufenthalt im unbekannten Land wird für Clemens Lang zu einer Reise in seine eigene Vergangenheit. Er fühlt sich in frühere Zeiten zurückversetzt und beginnt, Realität und Erinnerung kaum noch unterscheiden zu können. Figuren wie der Zeitungsredakteur Grünfeld und seine frühere Geliebte Anna tauchen in seinen Gedanken auf. Gleichzeitig wird er von zunehmendem Schwindel, Übelkeit und Halluzinationen heimgesucht – Symptome, die seine Wahrnehmung weiter verzerren.

Anspruchsvolle Literatur mit philosophischer Tiefe

Christian Hallers Roman Der seltsame Fremde* verlangt seinen Lesern einiges ab. Der Erzählstil ist anspruchsvoll, die wenigen, nicht gekennzeichneten Dialoge erschweren das Verständnis zusätzlich. Der Roman zieht Parallelen zu Mark Twains The Mysterious Stranger*, in dem der Neffe Satans die Zukunft kennt, und verweist auf literarische sowie wissenschaftliche Werke wie Homers Epen, Goethes Faust und dessen Farbenlehre.

Gesellschaftskritik hinter dichter Sprache

Trotz des komplexen Stils thematisiert Haller eine Vielzahl gesellschaftlicher Probleme: Kinderarbeit und Kinderarmut, desolate Wohnsituationen, Gier und Ausbeutung sowie den mangelhaften Schutz gegenüber giftigen Substanzen. Auch die Wirtschaftskrise findet Erwähnung, symbolisiert durch das „Platzen der Nullen“, während die Sensationspresse zur tödlichen Gefahr stilisiert wird.

Vielweltentheorie und experimentelle Erzählstruktur

Haller lässt offen, woher sein Protagonist stammt und wohin ihn die Einladung führt. Einige Passagen wirken irreal, etwa durch wechselnde Raumsituationen, die jedoch äußerst detailliert beschrieben sind. So erschafft der Autor eine bewusst unstete Realität. Der Roman richtet sich an Leser mit hohem literarischem Anspruch, die bereit sind, sich auf ein Gedankenexperiment zwischen Paralleldasein und Vielweltentheorie einzulassen.

Fazit: Spiegel der kosmischen Ungewissheit

Wie Clemens Langs Frau den Sternenhimmel als Blick in eine längst vergangene Vergangenheit deutet – ein Himmel, der so nie existierte –, experimentiert Christian Haller mit der Wahrnehmung von Raum, Zeit und Identität. Der seltsame Fremde* ist ein vielschichtiges Werk für philosophisch Interessierte, das mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet – und gerade darin seinen Reiz entfaltet.

Der seltsame Fremde von Christian Haller

Buchcover des Romans Der seltsame Fremde
Luchterhand Verlag 2013
Hardcover mit Schutzumschlag
384 Seiten
ISBN 978-3-630-87392-3

Bildquelle: Luchterhand Verlag

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