White Bird – Wie ein Vogel von R.J. Palacio und Erica S. Perl

White BirdPer Face-Time-Anruf telefoniert Julian aus New York City mit seiner Grandmère in Paris und bittet sie, für einen Schulaufsatz von ihrer Zeit als Mädchen im Krieg zu berichten. Obwohl die Erinnerungen schmerzen, beginnt sie damit, wie sie mit ihren Eltern in einem kleinen Dorf in Frankreich aufwuchs: Sara war verwöhnt, hatte hübsche Kleidung, Spielzeug und sogar ein Klavier. Ihr Vater, ein berühmter Arzt, und die als Dozentin an der Universität lehrende Mutter führten ein sorgenfreies Leben, das mit der Kapitulation vor den Deutschen im Jahr 1940 ein jähes Ende nahm. Die Mutter verlor ihre Arbeit, und der gerade zwölfjährigen Tochter wurde der Besuch einer Eisdiele verwehrt.

Eines Tages vergaß Sara ihr Skizzenbuch mit Vogelzeichnungen in der Schule und ausgerechnet ihr Tischnachbar, den sie wie alle stets ignorierte und mit dem sie nie ein Wort wechselte, brachte es ihr. Doch ihr Dank gegenüber dem in der Kindheit an Polio erkrankten Julien Beaumier, der wegen seiner verkrüppelten Beine den Spitznamen Tourteau (kleiner Krebs) bekam, fiel nur halbherzig aus. Wenig später wurde das jüdische Mädchen zum ersten Mal von ihrem Mitschüler Vincent gedemütigt und erzählte zu Hause davon. Ihr Vater wollte angesichts der massenhaften Deportationen, denen auch sein nie mehr aufgetauchter Bruder zum Opfer fiel, Frankreich verlassen, doch konnte ihn die Mutter zum Abwarten bewegen.

Plötzlich hieß es, die Nazis kämen und würden alle Juden verhaften. Sara sollte auf Bitten der Lehrerin einem Maquisard, Mitglied der französischen Untergrundbewegung, in den Wald folgen. Anders als die anderen elf Schüler schlich sich Sara unauffällig in den Glockenturm der Schule und wurde gewahr, wie die Soldaten nach den Schülern suchten, die Vincent verriet. Aus ihrem Versteck sah sie, wie alle mit der Lehrerin, die ihre Schüler nicht allein lassen wollte, abtransportiert wurden und der junge Maquisard hingerichtet wurde.

Obwohl er sich damit selbst in größte Gefahr begab, ermöglichte ihr der selbstlos handelnde Julien die Flucht durch die Abwasserkanäle bis zu seinem Dorf. Wegen der zu den Nazis haltenden Nachbarn musste sich Sara auf dem Heuboden einer Scheune verstecken, wo sie liebevoll von Juliens Eltern versorgt wurde. Sie verbrachte viel Zeit mit Julien, der ihr das bei ihrer Flucht zurückgelassene Skizzenbuch überreichte. Allerdings hatte ihn Vincent bei der Beschaffung beobachtet und ihn dafür fast zu Tode geprügelt. Kaum blickte Sara einem bald zu Ende gehenden Krieg entgegen und war glücklich über einen ersten Kuss von Julien, da musste sie um ihr Leben rennen und um das von Julien bangen. Jahrzehnte später erinnert sich Sara als Großmutter an den Moment, als sie von ihrem überlebenden Vater nach Paris geholt wurde sowie an ihren Traum mit einer vom Himmel schießenden Schar weißer Vögel.

Erica S. Perl hat die Graphic-Novel White Bird – Wie ein Vogel von R. J. Palacio für ihren gleichnamigen Jugendroman ergänzt. Saras Erzählung werden dabei wiederholt von Rückfragen ihres Enkels unterbrochen, worauf sie einmal antwortet, später erfahren zu haben, dass ihre Mutter in Auschwitz ums Leben kam. Jedes neue Kapitel zeigt eine der von R. J. Palacio geschaffenen Illustrationen, wobei in der Graphic-Novel viele Worte überflüssig waren, während für den Roman alles bildhaft Dargestellte einer ergänzenden Ausführung bedurfte. Daran, dass die mit den Nazis kollaborierenden Nachbarn letztendlich selbst Juden versteckt hielten, wird deutlich, dass damals niemandem mehr vertraut werden konnte.

Die wohlbehütet aufgewachsene Sara hat sich in der Zeit ihrer „Gefangenschaft“ sehr verändert und erst spät eingesehen, dass sie immer noch wie das eingebildete Mädchen war, das drei Jahre kein Wort mit ihrem Nachbarn gesprochen hat. Inzwischen hat sie bereut, für ihn in der Schule nie eingetreten zu sein. Neben dem Versprechen, einen Sohn Julian zu nennen, ist der fiktiven Grandmère ein kleiner aus Holz geschnitzter Vogel von Julien geblieben. Ihre im Text geäußerte Bitte, ihr Enkel möge nicht zulassen, dass sich das ihr Widerfahrene wiederholt, ist zugleich eine Mahnung an folgende Generationen, zunehmender Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus entschieden entgegenzutreten. Mit einer Reihe an Informationen endet die aus dem Englischen von André Mumot übersetzte, zutiefst bewegende und zu Tränen rührende Geschichte, die bereits ab einem Alter von elf Jahren gelesen werden sollte.

White Bird – Wie ein Vogel von R.J. Palacio und Erica S. Perl

White Bird
Übersetzung von André Mumot
Carl Hanser Verlag 2023
Hardcover mit Schutzumschlag
288 Seiten
ISBN 978-3-446-27506-5

Bildquelle: Carl Hanser Verlag


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