Das Genre der Graphic-Novels scheint in letzter Zeit immer beliebter zu werden, sprechen doch allein schon die aussagekräftigen Illustrationen das Gemüt an. R.J. Palacio hat für den Rahmen ihrer Graphic-Novel White Bird – Wie ein Vogel* einen Face-Time-Anruf zwischen Großmutter und ihrem Enkel gewählt, in dem seine Grandmère von ihrer Vergangenheit als junges Mädchen im Krieg berichtet. Obwohl es der Großmutter schwerfällt darüber zu reden, wie die Illustrationen deutlich veranschaulichen, kommt sie der Bitte nach, damit auch die Generation ihres Enkels Bescheid weiß und nicht zulässt, dass sich das wiederholt, was sie erleben musste:
Als Sara Blum lebt sie in den 1930er Jahren glücklich in einem kleinen französischen Ort mit ihren Eltern. Der Vater ist Arzt, die Mutter eine Mathematikerin. Doch nach der Kapitulation vor den Deutschen verliert die Mutter aufgrund der antijüdischen Gesetze ihre Arbeit an der Universität. In den besetzten Gebieten werden im Sommer 1940 die ersten Menschen in Konzentrationslager deportiert. Sara, die in der freien Zone noch die Schule besuchen darf, lässt eines Tages versehentlich ihr Skizzenbuch zurück. Ihr in der Kindheit an Polio erkrankter Tischnachbar trägt wegen seiner Behinderung den Spitznamen Tourteau (kleiner Krebs) und bringt es ihr wieder. Doch im Beisein ihrer Freundinnen dankt Sara ihm nur halbherzig.
Während Saras Vater Frankreich aus Sorge verlassen möchte, überredet ihn die Mutter noch zu bleiben. Zu früh kommt der Tag, an dem die Nazis alle Juden abholen wollen. Sara wird aus dem Unterricht geholt, und ein Maquisard genannter Widerstandskämpfer drängt zum überstürzten Aufbruch in den Wald. Ohne nachzudenken flüchtet Sara unbeobachtet zurück in die Schule. Tatsächlich ist das ihre Rettung, denn Tourteau hat sie beobachtet und führt sie durch die Kanalisation ins Freie. Ihre Mitschüler werden von Vincent verraten und wie die Lehrerin, die ihre Kinder nicht allein lassen will, werden sie nie wieder gesehen.
Tourteau führt Sara in sein Dorf und versteckt sie in einer Scheune, die sie wegen seiner mit den Nazis kollaborierenden Nachbarn nicht verlassen darf. Ihren mutigen Retter nennt Sara von nun an mit seinem Namen Julien Beaumier. Sie ist froh, von seinen Eltern so rührend umsorgt zu werden, da sie ahnt, ihre Mutter nie wieder zu sehen. Erst später sollte Sara erfahren, dass diese in Auschwitz umkam. Wenn ihr auch alles genommen wurde, so hat sie ihre Fantasie behalten und träumt davon, wie ein Vogel zu fliegen. Als Julien von Vincent bis in die Scheune verfolgt und misshandelt wird, hätte Sara fast ihr Versteck preisgegeben. Monatelang verbringen Sara und Julien viel Zeit miteinander und träumen schon von einer gemeinsamen Zukunft. Doch nachdem Julien auf dem Schulweg von Soldaten verschleppt wurde, bleibt Sara nur die Erinnerung an ihn, ein Kuss und der Name ihres Enkels: Julien! Selbst konnte sie bis zum Kriegsende bei den Beaumiers bleiben und freute sich über die Nachricht, dass ihr Vater, von Maquis in die Schweiz geschmuggelt, überleben konnte.
Die Illustrationen von R.J. Palacio zeigen eindringlicher als Worte auf, welche Qualen sowohl die Eltern von Sara, als auch ihre Lehrerin, der Pastor oder später die Eltern von Julien erlitten haben. Besonders kommt das auch zum Tragen, als Sara erfahren hat, dass Julien auf dem Schulweg abgeholt wurde und vermutlich wie der erst achtzehnjährige Maquisard, der auch mit ihr in den Wald flüchten sollte, erschossen wurde. Getrennt voneinander sind beide in Gedanken beim anderen und fühlen mit ihm. Die Illustrationen machen zunächst Saras unbeschwertes Leben deutlich, wie sie einst schöne Möbel, hübsche Kleidung und das Klavierspiel gewohnt war, während sie später im Winter und Sommer einsam auf einem Dachboden in Gesellschaft von Mäusen und Fledermäusen leben musste. Ihr Alter und wo sie ihre Notdurft verrichten konnte, hat die Autorin unerwähnt gelassen.
Die aus dem Englischen von André Mumot übersetzte, aufrührende Graphic-Novel ist für Kinder ab einem Alter von elf Jahren interessant und macht deutlich, dass während der Naziherrschaft niemand dem anderen trauen konnte. Denn tatsächlich haben in der fiktiven Geschichte auch die Nachbarn von Familie Beaumier ein Ehepaar versteckt, weil die Männer im Krieg gemeinsam gekämpft haben und sich der Nachbar seinem Kameraden verpflichtet fühlte. Die Familie Beaumier bezichtigte die Nachbarn ebenso der Kollaboration mit den Nazis wie diese auch. Von Anfang an vermag das bedeutungsvolle Buch White Bird – Wie ein Vogel* den Leser, der am Ende noch neben weiteren Informationen ein Glossar und Quellenangaben erhält, in seinen Bann ziehen.
White Bird – Wie ein Vogel von R.J. Palacio
Übersetzung von André Mumot
Carl Hanser Verlag 2023
Hardcover
224 Seiten
ISBN 978-3-446-27604-8