Der Roman Vergiss kein einziges Wort* ist eine Familiensaga, die im Jahr 1921 mit der Teilung Schlesiens seinen Anfang nimmt, den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sowie die 68er Studentenunruhen und die Niederschlagung des Prager Frühlings mit dem Einmarsch der Russen behandelt, um schließlich mit dem Beitritt Polens in die EU im Jahr 2004 zu enden. Dörthe Binkert schildert anhand von Familienschicksalen die Konsequenzen, die sich für die schlesische Bevölkerung in dem Zeitraum ergeben haben, wobei sie sich einerseits ganz eng an geschichtliche Fakten gehalten, andererseits aber auch fiktive Handlungspersonen in den Plot eingebaut hat, mit denen sich der Leser identifizieren kann und ihm ein besseres Verständnis ermöglichen.
Martha und Carl Strebel wohnen im oberschlesischen Gleiwitz und haben bereits die Kinder Konrad, Heinrich, Ida, Hedwig und Klara, als sie im Jahr 1921 mit Luise ein weiteres Kind bekommen. Die immer hilfsbereite Nachbarin Agnes Liedka ist für Martha eine treue Verbündete. Als sich Konrad mit der Polin Paulina verlobt, gerät er mit seinem Bruder Heinrich in Streit. Konrad, der kritisch auf die schlechten Bedingungen in den Bergarbeitersiedlungen und die Ausbeutung der Grubenarbeiter hinweist, verlässt schließlich nach weiteren Auseinandersetzungen auch mit seinem Vater sein Elternhaus. Ein wirtschaftlich bedeutender Teil von Oberschlesien fällt an Polen und die Inflation macht den Menschen das Leben schwer.
Luise findet in Magda eine zuverlässige Freundin, Konrad und Paulina heiraten und werden Eltern, die emanzipierte Ida eröffnet in Breslau einen eigenen Salon und stellt ihre erst fünfzehnjährige Schwester Klara ein. Heinrich arbeitet sich in der NSDAP hoch und heiratet Helga, Hedwig arbeitet als Stationsschwester im Krankenhaus. Als Konrad mit Paulina zu ihren Verwandten nach Polen reist, was nicht ungefährlich ist und weshalb er hofft, dass sein Bruder Heinrich eine schützende Hand über die Familie hält, nimmt er Luise mit, die sich Hals über Kopf in einen Polen verliebt und mit siebzehn Jahren schwanger wird. Sie wird von der Schule verwiesen und obendrein aus dem Elternhaus geworfen. Bei der Mutter ihrer besten Freundin Magda kommt sie unter. Aber auch Ida hat kein leichtes Leben, weil ihre jüdische Freundin Ruth bei ihr ein- und ausgeht. Dann brennen die Synagogen und mit Ausbruch des Krieges macht Anton seiner Klara noch schnell einen Heiratsantrag.
Dörthe Binkert zeichnet in ihrem Roman Vergiss kein einziges Wort* realitätsgetreu die politische Lage des viele Jahre umfassenden Epos. Das zunächst zu Deutschland gehörende Oberschlesien wird geteilt, in der Folge besetzen Nazis das zu Polen gehörende Gebiet und schließlich besetzen die Russen das nunmehr zu Deutschland gehörende Oberschlesien. Die Autorin macht die Verzweiflung der Menschen deutlich, die in den an Polen gefallenen Gebieten aufgewachsen sind und dort auch eine Arbeit hatten, denn wer blieb, galt automatisch als Pole. Mit Ausbruch des Krieges haben so Verwandte gegeneinander kämpfen müssen. Bruder, Vater oder Schwager standen auf der anderen Seite.
Der Roman thematisiert die Verhörmethoden der Gestapo, das Elend der Zwangsarbeiter, Erschießungen bei Befehlsverweigerung sowie das Auseinanderreißen vieler Familien, die Ängste, Hoffnungen und Träume der verzweifelten Menschen, die oftmals die Toten beneidet haben. Die Bevölkerung Schlesiens, die lange Zeit vom Krieg verschont blieb, traf es mit dem Einmarsch der Alliierten russischen und polnischen Streitkräfte besonders hart und vergeblich warteten sie auf eine Möglichkeit zur Ausreise, da ihnen die Fluchtwege in den Westen versperrt waren. In dem Epos werden auch alte Seilschaften angesprochen, die den Verantwortlichen eine rechtzeitige Flucht ermöglichten. Im weiteren Verlauf des Plots erfährt der Leser viel über die Geschichte Lembergs, denn in diesen Ort verschlägt es Luises Freundin Magda. Von den Ereignissen wird er gefühlsmäßig dermaßen eingenommen, als würde er das Schicksal der Protagonisten teilen. Dörthe Binkert ist mit diesem grandiosen Werk ein eindringliches Zeitportrait gelungen, das seinesgleichen sucht: Akribisch genaue Einhaltung der geschichtlich dokumentierten Begebenheiten, eingebunden in eine ergreifende Familiengeschichte, die das Schicksal abertausender Menschen begreifbar macht.
Vergiss kein einziges Wort von Dörthe Binkert
dtv 2018
Hardcover mit Schutzumschlag
672 Seiten
ISBN 978-3-423-28964-1