Im Freien – Abenteuer vor der Tür von Björn Kern

Im Freien - Abenteuer vor der TürSeit den Sechzigerjahren, so schreibt Björn Kern in seinem Buch „Im Freien – Abenteuer vor der Tür“, zieht es die Deutschen zu immer weiter entfernteren Urlaubszielen. Als Folge wird die nähere Umgebung kaum noch erkundet, weil die zur Verfügung stehende Zeit in der Ferne verbracht wird. Als er sich eines Abends nach einem am Computer verbrachten Tag dazu entschließt, eine Nacht im märkischen Wald am Rand des Oderbruchs zu verbringen, ist er überrascht, wie fremd plötzlich bekannte Orte auf ihn wirken. Aus Furcht schlägt er sein Lager am Waldrand auf, um bei Tagesanbruch festzustellen, dass seine Ängste unbegründet waren.

Immer öfter verspürt der Autor ein Nahweh, tauscht die Drinnen- gegen die Draußenwelt und nur im Freien gelingt es ihm, an nichts mehr zu denken. Er versteht sich nicht als Aussteiger, sondern will vielmehr dem gleichförmigen Alltag auf Zeit entfliehen. So läuft er nachts über Gleise und auf Anraten seines Nachbarn watet er mit mulmigem Gefühl durch ehemalige Schützengräben der Seelower Höhen, wo sich noch im Frühjahr 1945 hunderttausende Soldaten einen erbitterten Kampf geliefert haben. Mit seinem Sohn Luc zeltet er während eines Gewitters am Waldrand und nimmt ein Bad in der Oder, deren starke Strömung schon einigen Menschen zum Verhängnis geworden sein soll.

Björn Kern schreibt von der sich im Laufe der letzten zweihundertfünfzig Jahre durch Trockenlegung veränderten Landschaft und teilt seine detaillierten Beobachtungen mit dem Leser. Als begnadeter Erzähler zeichnet er beispielsweise den Flug eines Kranichs penibel nach und registriert unzählige Tiere in der Luft und im Wasser. In der Einsamkeit ist er empfänglich für Geräusche und nimmt eine Vielzahl der unterschiedlichsten Gerüche wahr. Unterbrochen werden seine Erlebnisse in der Natur von Alltäglichkeiten wie der Notwendigkeit, eine Mauer zu verfugen. Von einer Unterhaltung mit seinem Sohn abgesehen führt er gelegentlich kurze Wortwechsel mit seinem Nachbarn.

In seinem mit kritischen Untertönen gespickten Buch „Im Freien – Abenteuer vor der Tür“ stellt der Autor Dinge des alltäglichen Lebens in Frage. Er schreibt von totgespritzten Agrarwüsten und stellt fest, dass wir nicht mehr wie früher Dinge konsumieren, sondern inzwischen die Dinge längst uns konsumieren. Seine Gedanken kreisen um das von Monsanto hergestellte Glyphosat, die aus Bangladesch stammende Kleidung oder die in China gefertigten Rechner. Bei dem von Friedrich II. ersonnenen Plan, ein Kartoffelfeld von Soldaten bewachen zu lassen, um so das Interesse der Bauern auf die bis dahin unbekannte Kartoffel zu lenken, handelt es sich jedoch vermutlich nur um eine Legende, auch wenn der König wegen der Hungersnöte tatsächlich einen „Kartoffelbefehl“ erlassen hat und bis heute auf seinem Grab Kartoffeln abgelegt werden.

Björn Kern endet in seiner Aufzeichnung mit einer Grenzerfahrung, die er in einer Schwitzhütte eines Schamanen gemacht hat, der davon überzeugt ist, dass der Körper aushält, was der Geist erträgt. Letztlich schließt er mit einer mutigen und fast schon lebensmüden Unternehmung, die ihm alles abverlangt hat und sicher nicht jedem zur Nachahmung empfohlen werden kann. Der Leser sollte sich für die tiefsinnige Lektüre genügend Zeit nehmen, die es ihm erlaubt, an entsprechenden Stellen das Buch aus der Hand zu legen und über die im Kern gemachte Aussage nachzudenken. Der eher handlungsarme Bericht kann vielleicht dem einen oder anderen, der bisher ein gehetztes Leben geführt und Jagd nach immer neuen Schnäppchen gemacht hat, die Augen öffnen und ihn in ein Abenteuer vor der eigenen Haustür führen.

Im Freien – Abenteuer vor der Tür von Björn Kern

Im Freien - Abenteuer vor der Tür
S. Fischer Verlag 2019
Klappenbroschur
224 Seiten
ISBN 978-3-596-70201-5

Bildquelle: S. Fischer Verlag
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