Das Leben ist manchmal woanders von Ulrike Herwig

Das Leben ist manchmal woandersJudith und Achim Krause holen ihre Schwester Marlene und deren vierzehnjährigen Sohn Gregor, die für einen Besuch aus Bayern anreisen, vom Bahnhof ab. Allerdings fällt Gregor nicht nur wegen seines zu großen Kopfes aus dem Rahmen, sondern vor allem, weil er bei sommerlichen Temperaturen einen peruanischen Poncho und eine Schafsfellmütze trägt. Judith ist das Outfit ihres Neffen peinlich und ihr ist unverständlich, wie Marlene das offenbar tolerieren kann. Als die beiden Schwestern mit Gregor schwimmen gehen, will er selbst im Wasser die Mütze nicht abnehmen. Judith ist froh, dass sie noch einige Besorgungen machen muss, weshalb Marlene mit Gregor nachkommen will. Während Judith und Achim auf die beiden warten, erreicht sie ein Anruf der Uniklinik: Marlene wurde von einem Auto angefahren, erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma und wurde in ein künstliches Koma versetzt.

Notgedrungen wollen Judith und Achim den Neffen so lange bei sich aufnehmen, bis Marlene aus dem Koma erwacht. Gregor überrascht seine Tante immer wieder aufs Neue, wenn er beispielsweise am Klavierspiel einer Nachbarin Mollakkorde erkennt oder wenn er völlig in sich gekehrt eine Reihe von Wetterdaten im Internet ansieht. Doch Gregor verblüfft sämtliche Hausbewohner, wenn er Äußerungen von sich gibt, die sie für verrückt halten und ihm gar nicht zugetraut hätten. In seiner Naivität stellt er ihnen aus seiner Sicht völlig logische Fragen, mit denen er die einen brüskiert, andere belustigt. Er kommt ganz ungezwungen mit allen ins Gespräch, das gelingt ihm auch bei der aus Rumänien stammenden Frau Junescus, die in ihrer Wohnung ungewöhnliche Tiere hält, bei der früher berühmten und inzwischen dem Alkohol zusprechenden Frau Dürer, und sogar bei dem griesgrämigen Herrn Walter. Gregor redet mit der alten Frau Hoffmann, die um ihre Gartenlaube trauert, an der ihre Kinder kein Interesse haben, er unterhält sich mit Frau Regner, die auf den großen Durchbruch in der Musikbranche hofft, sowie mit Lars, den sein BWL-Studium nicht befriedigt und der mit seiner Freundin ein angespanntes Verhältnis hat. Sogar für die Sorgen von Judith und Achim, die unglücklich darüber sind, dass ihr Sohn in Melbourne lebt, findet er eine Lösung.

Ulrike Herwig widmet sich in ihrem Roman „Das Leben ist manchmal woanders“ einem sensiblen und teilweise tabuisierten Thema. Ihr Protagonist Gregor leidet an dem Asperger-Syndrom, einer Entwicklungsstörung. Der Autorin ist es auf sehr eindrucksvolle Weise gelungen, Verständnis für Menschen aufzubringen, die irgendwie anders sind. Anhand von Beispielen, wie Gregor mit den Hausbewohnern umgeht, macht sie deutlich, dass anders als „normal tickende“ Menschen durchaus über individuelle, besondere Fähigkeiten verfügen können. Sie denken anders und gehen deshalb andere Wege, die für einen normalen Menschen völlig undenkbar sind. Dass sich die Probleme der Hausbewohner, denn jeder hat eine Last zu tragen, letztlich wie ein Puzzle zusammenfügen und jeder vom anderen profitiert, mag zwar etwas viel Zufall sein, doch heiligt der Zweck, nämlich auf die Andersartigkeit aufmerksam zu machen, in diesem Fall die Mittel. „Das Leben ist manchmal woanders“ ist ein von Ulrike Herwig sprachlich gut umgesetzter Roman, der trotz aller Ernsthaftigkeit des Themas den Leser durchaus auch an einigen Stellen schmunzeln lässt.

Das Leben ist manchmal woanders von Ulrike Herwig

Das Leben ist manchmal woanders
dtv 2018
Broschur
288 Seiten
ISBN 978-3-423-26161-6

Bildquelle: dtv
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