Ein Ministerpräsident ohne Gedächtnis
Nach einem schweren Autounfall liegt Claus Urspring, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, zehn Tage im Koma. Als er in einer Klinik im Schwarzwald erwacht, zeigt er Symptome einer systematisierten Amnesie. Er erkennt weder seine Ehefrau noch weiß er, welcher Partei er angehört oder welche Aufgaben mit seinem Amt verbunden sind. Die behandelnde Ärztin diagnostiziert gravierende Erinnerungslücken und weist darauf hin, dass die Rückgewinnung seiner Identität Wochen oder gar Monate in Anspruch nehmen könnte. Aus gesundheitlichen Gründen rät sie ihm zum Rücktritt vom Amt.
Die politische Maschinerie will Ergebnisse
Doch der politische Berater Julius März verfolgt andere Interessen: Er möchte Urspring möglichst schnell für den bevorstehenden Wahlkampf reaktivieren. Dazu muss der Ministerpräsident Namen von Ministern, Verwaltungsvorschriften und die Feinheiten der Ministerialbürokratie erneut erlernen – März fungiert dabei als strenger Prüfer. Doch Urspring ist erschöpft und desinteressiert: Die Politik, die einst sein Leben bestimmte, berührt ihn nicht mehr. Dennoch behauptet März in Gesprächen mit Parteivertretern, sein Schützling sei wieder der Alte – entschlossen, im Amt zu bleiben.
Medieninszenierung als politisches Werkzeug
Für eine geplante Rundfunkansprache engagiert März die Tontechnikerin Hannah, eine erfahrene Redenschneiderin. Sie komponiert aus einzelnen Wörtern und Phrasen überzeugende Reden, die Urspring lediglich mimisch begleiten muss. Dabei fällt Hannah auf, dass Urspring seinen schwäbischen Dialekt verloren hat. Stattdessen spricht er nun nahezu akzentfreies Hochdeutsch – auch sein Englisch hat sich signifikant verbessert. Für März ist das fatal: Die Bevölkerung erwartet das schwäbische Idiom, das bisher einen Teil der öffentlichen Identität des Ministerpräsidenten ausmachte. Hinzu kommt, dass Urspring hinkt – ein Bild, das mit der erwarteten Dynamik eines Spitzenpolitikers kollidiert.
Als Lösung wird die Fahrrad-Inszenierung bei Wahlveranstaltungen konzipiert: Ein symbolträchtiger Akt, der den ökologischen Wandel und die Senkung von CO₂-Emissionen geschickt kommuniziert und zugleich von seiner körperlichen Einschränkung ablenkt.
Literarische Qualität und politische Relevanz
Joachim Zelters Roman Der Ministerpräsident* ist eine scharfsinnige politische Satire, die nicht nur die Inszenierung von Politik hinterfragt, sondern auch die Entpolitisierung der Gesellschaft thematisiert. Trotz der absurden Prämisse wirkt die Handlung erschreckend glaubwürdig – nicht zuletzt durch subtile Anspielungen auf reale Politiker wie Dieter Althaus oder Günther Oettinger.
Zelter erzählt nicht nur die Geschichte eines Machtträgers, sondern eines Mannes, der durch einen Unfall seine Identität verliert und mit kindlichem Blick eine neue Wahrnehmung der Welt entwickelt. Seine Sprache ist prägnant, rhythmisch und dynamisch – ein Stilmittel, das die Handlung vorantreibt und das Buch stilistisch prägt.
Der Ministerpräsident von Joachim Zelter
Klöpfer & Meyer Verlag 2010
Hardcover mit Schutzumschlag
188 Seiten
ISBN 978-3-940-08683-9